Geschlechtsvormundschaft

Geschlechtsvormundschaft

Geschlechtsvormundschaft (Cura sexus), die auf dem Grunde der weiblichen Wehrlosigkeit u. Schwäche beruhende Vormundschaft über mündige Frauenspersonen. Das ältere Deutsche Recht stellte die Frauen allgemein unter das Mundium eines Mannes, weil nur der Mann im Volksgerichte persönlich auftreten durfte, u. ohnehin zu manchen gerichtlichen Acten, bes. bei der Beweisführung, die Kraft eines Mannes nothwendig war. Die G. kam zunächst dem Vater, in Ermangelung desselben dem nächsten Schwertmagen od. dem Ehemann u. dessen nächsten Verwandten zu, insofern Letztere der Frau ebenbürtig waren. In dem späteren Mittelalter neigte sich mit dem Wegfall der ursprünglichen Gründe die Volksansicht größerer Selbständigkeit der Frauen zu, bes. erkannte man bald den unverheiratheten [269] Frauen das Recht zu, sich ihren Vormund selbst zu erwählen; auch wurde die Zuziehung des Geschlechtsvormundes, mit Ausnahme der verheiratheten Frauen, bei denen dem Ehemann das Mundium in ausgedehnterer Weise eingeräumt blieb, nur auf eine Vertretung bei processualischen Handlungen eingeschränkt. Die Einführung des Römischen Rechtes, welchem die G. wenigstens in der späteren Zeit ganz unbekannt war, wirkte noch mehr dazu, sie allmälig immer mehr zu einer bloßen Formalität herabsinken zu lassen. In den meisten Ländern ist sie jetzt ganz aufgehoben, wo sie noch besteht, kann sie nicht als eine eigentliche Tutel od. Cura angesehen werden, sondern der Geschlechtsvormund erscheint nur als ein rathgebender Beistand. Sein Amtist daher mit keiner Vermögensverwaltung verbunden, sondern besteht nur in dem Beitritt zu gewissen, bes. bei allen gerichtlichen Geschäften; in Bezug auf die außergerichtlichen Geschäfte zeigt sich in den Landesgesetzen eine große Verschiedenheit, meist wird die Zuziehung des Geschlechtsvormundes aber hier nur verlangt bei Veräußerung von Immobilien od. Geschäften, welche das ganze Vermögen betreffen, doch auch im letzteren Falle nicht bei eigentlichen Testamenten u. ebensowenig bei Eingehung einer Ehe. Handelsfrauen bedürfen zur Abschließung von Handelsgeschäften keines Geschlechtsvormundes. Ein ohne Zuziehung des Geschlechtsvormundes vorgenommenes gerichtliches Geschäft ist durchaus nichtig, ein außergerichtliches nur zum Vortheil der Frau, so daß sie allein es anfechten kann. Der Geschlechtsvormund wird von der unverheiratheten Frau selbst gewählt u. hierauf vom Gericht bestätigt; er kann aber in jedem Augenblick gewechselt werden. Bei verheiratheten Frauen gilt der Mann als gesetzlicher Vormund u. hat insofern ausgedehntere Rechte, als er auch im Namen seiner Frau allein vor Gericht handeln kann. In ähnlicher Weise kennt übrigens auch das ältere Römische Recht eine allgemeine G. über die Frauen, insoweit dieselben nicht schon als Ehegattinnen der Manus (s.u. Ehe II. B) b) ihres Mannes unterworfen waren, die Tutela perpetua mulierum. Sie stand den nächsten Gliedern der Agnatenfamilie zu u. fand ihre Begrenzung in dem Zwecke, daß das Vermögen der Frau der Familie möglichst erhalten u. nicht durch eigenmächtige Veräußerungen der Frau dissipirt werden sollte. Die Tutores mulierum hatten daher auch kein eigentliches Verwaltungsrecht, sondern nur die Befugniß, daß ohne ihr Vollwort keine bedeutenderen Vermögensveräußerungen vorgenommen werden konnten. Befreit von dieser Tutel waren aber von jeher die Vestalinnen, wahrscheinlich auch die Libertinen, u. nach der Lex Papia Poppaea alle Frauen, welche das Jus liberorum (s.u. Ehe) hatten; die Lex Claudia hob die Tutel der Agnaten auf. Außerdem erfand die Jurisprudenz eine Anzahl künstlicher Auskunftsmittel, durch welche die Tutel entweder umgangen od. doch in ihren Wirkungen gemildert werden konnte (z. B. die Coëmtio tutelae evitaudae causa, Optio tutoris in ihren mancherlei Formen etc.). Seit Diocletian findet sich keine Spur der G. bei den Römern mehr.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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