Verstand

Verstand

Verstand, im Allgemeinen das Vermögen des Denkens, u. zwar einer solchen Verknüpfung der Begriffe u. Urtheile, wie sie durch den Inhalt des Gedachten gefordert wird. Diese Beschränkung ist deshalb wesentlich, weil nicht jede beliebige Verknüpfung von Vorstellungen u. Gedanken, wie sie in zufälligen Associationen, Phantasien, Träumen etc. vorkommt, auf den Namen einer verständigen Anspruch machen kann; verständig ist nur das Denken, welches sich nach der Beschaffenheit des Gedachten richtet. Insofern dabei diese Beschaffenheit selbst bekannt u. bestimmt sein muß, ist Klarheit u. Deutlichkeit der Begriffe das erste Merkmal eines solchen Denkens, u. insofern dem V-e die Function beigelegt wird nicht nur hierfür, sondern auch dafür zu sorgen, daß keine Verknüpfung bestimmter Begriffe[522] zu Urtheilen u. Schlüssen für zulässig u. gültig erklärt werde, welche ihrem Inhalte zuwiderlaufen würde, d.h. für Widerspruchslosigkeit u. Consequenz, erscheint der V. als logisches Vermögen. Insofern aber auch das Handeln des Menschen von der Überlegung über das Verhältniß der Mittel zu seinen Zwecken, also von der Kenntniß u. Beachtung der Natur u. der Beschaffenheit beider, abhängt, nennt man verständig den, welcher von dieser Beschaffenheit die richtige Vorstellung hat u. sich in seinem Thun u. Lassen darnach richtet; der V. erscheint als praktisches Vermögen. Dieses Verständige Denken gibt sich thatsächlich in sehr verschiedenen Graden, Arten u. Richtungen zu erkennen, die meisten Menschen denken u. handeln in gewisser Beziehung verständig, aber ihr V. ist auf gewisse Gebiete beschränkt; ein verständiger Landwirth od. Baumeister ist deshalb noch nicht nothwendig ein verständiger Arzt od. Feldherr od. Staatsmann etc., vielmehr ist die Art u. der Grad des Verstandes, welchen Jemand in Anspruch nehmen kann, durch das Vorhandensein der Begriffe u. Vorstellungsreihen bedingt, innerhalb deren sich sein Denken mit Sachkenntniß, Sicherheit u. Geläufigkeit bewegt. Für sehr große Gebiete bietet in dieser Beziehung die festen Haltepunkte u. den Leitfaden der verständigen Überlegung die Erfahrung dar; sie belohnt u. witzigt den Menschen u. zwingt ihn sich in seinem Denken u. Thun nach der Beschaffenheit der Dinge zu richten. In analoger Weise bezeichnet den wissenschaftlichen V. die Richtigkeit, Schärfe u. Consequenz in dem Gebrauche der zu einem bestimmten Gebiete der Erkenntniß gehörigen Begriffe, gleichviel ob dieselben aus der Erfahrung entlehnt od. anders woher gewonnen sind. Die Art der Gründe u. Zwecke, nach denen der Mensch in seinem Fürwahrhalten u. seinem absichtlichen Handeln sich richtet, bleibt, so lange man es blos von Seiten seiner Verständigkeit auffaßt, unbestimmt; es kann sich daher in der gemeinen Klugheit ein hoher Grad von V. mit einer übrigens niedrigen Denkungsart vereinigen, wie dann überhaupt der V. bisweilen als kalt u. herzlos bezeichnet wird, weil es für ihn kein Motiv der Entscheidung gibt, als den Zusammenhang zwischen Grund u. Folge, Ursache u. Wirkung. Die bei verschiedenen Individuen höchst verschiedene Beschaffenheit, Ausbildung u. Vererbung der Vorstellungsreihen, in denen ihr individueller V. seinen Sitz hat, hätte die Psychologie abhalten sollen den V. als ein allgemeines, unabhängig von dieser geistigen Ausbildung vorhandenes Vermögen anzunehmen; Veranlassung dazu gab weniger die besondere Beschaffenheit des Denkens u. Handelns, um dessen willen der Mensch verständig genannt wird, als vielmehr die Gleichheit der Formen, an welche das Denken überhaupt gebunden ist. Über das von der neueren deutschen Philosophie angenommene Verhältniß zwischen V. u. Vernunft, s. Vernunft.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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