Vorschußvereine

Vorschußvereine

Vorschußvereine (Vorschußkassen, Creditvereine), Vereine von Privatpersonen, welche den Zweck haben den unbemittelten kleineren Gewerbtreibenden aus einem entweder durch regelmäßige Beiträge od. Geschenke zusammengebrachten Gesellschaftscapital gegen Bürgen, Pfand od. auch nur gegen mündliches od. schriftliches Versprechen der Rückzahlung binnen gewisser Zeit (auf Personalcredit) kleinere Vorschüsse an Geld zur Betreibung ihres Geschäftes zu machen. Der Gewerbtreibende, welcher kein eigenes Vermögen besitzt, ist in der Regel nicht im Stande auf seinen eigenen Credit diejenigen Geldmittel zu erlangen, welche ihm nothwendig sind, um die Materialien zu einer ausgebreiteteren u. damit mehr lohnenden Betreibung seines Geschäftes zu erhalten. Auch bei dem besten Willen fehlen ihm deshalb die Kräfte, welche ihn einigermaßen in Stand setzen könnten die Concurrenz mit dem größern Fabrikbetrieb auszuhalten, u. man hat längst erkannt, daß in diesem Mangel des nöthigen Capitals eine der Hauptursachen liege, wodurch das kleine Handwerk mehr u. mehr herabgedrückt u. die Kluft zwischen reichen Fabrikherren u. einem armen Handwerkerproletariat immer mehr erweitert wird. Als ein Mittel hiergegen traten seit dem Anfange der vierziger Jahre dieses Jahrh. die V. in das Leben. Sie gingen aus dem Gedanken hervor, daß mittelst kleiner Vorschüsse, deren Hingabe möglichst zu erleichtern sei, dem niederen Handwerk diejenige Hülfe gewährt werden müsse, welche den größeren Unternehmern u. reicheren Kaufleuten die Banken an die Hand geben, weshalb man diese Vereine auch wohl Volksbanken genannt hat. Die erste Anregung zur Gründung solcher V., ging meist aus einem Gefühl der bloßen Mildthätigkeit hervor. Das Vorschußgeben wurde dabei nur als Wohlthätigkeitssache betrachtet, das Capital der V. wurde daher meist nur durch Geschenke u. Stiftungen, wohl auch durch Staats- od. Communalmittel zusammengebracht u. die Vorschüsse selbst eigentlich als Almosen unter der mehr schonenden Form unverzinslicher Darlehen gegeben. Dieser Art von V-n gehörten bes. die Darlehnsanstalt für Gewerbtreibende in Leipzig, die Vorschußkassen in Altenburg, Hameln u. Norden, eine Anzahl ähnlicher Institute in Baiern, z.B. die Darlehnskasse des Gewerbvereins in Nördlingen, u. die Berliner Darlehnskasse, welche sich größtentheils im Drange[698] der Jahre 1848 u. 1849 bildeten, an. Bei aller Löblichkeit ihrer Absicht haben doch diese V. nur eine beschränkte Thätigkeit zu entwickeln vermocht. Weil man die Vorschüsse meist mehr nur als Unterstützungen Hilfsbedürftiger bewilligte, so wurde weder Seitens der Geber die Zahlungsfähigkeit der Empfänger genau geprüft, noch auf Seiten der Empfänger an Rückzahlung ernstlich gedacht. Es erlitten daher die zusammengebrachten Capitalien vielfach eine rasche Abminderung, welche den Eifer der Gründer u. Leiter wegen getäuschter Erwartungen u. immer größerer Anforderungen bald erkalten ließ. Selbst wo aber unter einer sorgsamen Verwaltung diese Abminderung auch nicht eintrat, haben diese V. schon durch die Verbreitung des demoralisirenden Glaubens nicht wenig schädlich gewirkt, daß der kleine Handwerker ohne fremde Unterstützung nicht mehr existiren könne. In Erkenntniß dieses letzterwähnten Fehlers der bisherigen V. bildete sich bes. seit dem Jahre 1850 eine zweite Klasse derselben, welche den Grundsatz an die Spitze stellten, daß die Creditbedürftigen des kleinen u. mittleren Gewerbstandes sich selbst helfen müßten, u. daß allen derartigen Versuchen der Noch des Gewerbetreibenden aufzuhelfen so lange die wahre Lebensfähigkeit abgehe, als sie nicht durch eigene Kraft zu bestehen im Stande seien. Diese eigene Kraft fand man aber in der Association der Creditbedürftigen unter der Form der Solidarität, des Einstehens Aller für Einen u. Jedes für Alle. Die zu dem Vereine Zusammentretenden machen sich verbindlich das nöthige Capital zur Beschaffung solcher Vorschüsse durch eigene Beiträge u. durch Aufnahme von Capitalien auf gemeinschaftlichen Credit zusammenzubringen, ebenso auch das Risico, welches in der Hingabe der Vorschüsse immer liegt, gegenseitig zu übernehmen. Auf der Grundlage dieser Sätze entstanden zunächst in zwei Landstädten der preußischen Provinz Sachsen, Eilenburg u. Delitzsch, V., welche sehr bald eine verhältnißmäßig viel bedeutendere Thätigkeit entwickelten, als die älteren Vorschußkassen. Diese Beispiele fanden auch anderwärts Nachahmung, zunächst in andern Städten der Provinz Sachsen u. in Thüringen, dann aber reißend schnell in fast allen Theilen Deutschlands. Das Hauptverdienst um diese Verbreitung gebührt dem preußischen Kreisrichter a. D. Schulze-Delitzsch, welcher nicht allein selbst bei der Gründung mehrer derartiger Vereine thätig gewesen ist, sondern auch die dabei einzuhaltenden Regeln in mehren Schriften (Die arbeitenden Klassen u. das Associationswesen in Deutschland, Lpz. 1858; Associationsbuch für deutsche Handwerker u. Arbeiter, ebd. 1853; Vorschuß- u. Creditvereine als Volksbanken, 3. Aufl. ebd. 1862; Jahresberichte über die auf Selbsthülfe beruhenden deutschen Genossenschaften für die Jahre 1859, 1860, 1861, 1862) wissenschaftlich entwickelt hat. Das Betriebscapital wird bei diesen Genossenschaften theils durch Darlehen od. Gaben Fremder, theils u. hauptsächlich durch die Eintrittsgelder u. durch geringe monatliche Beiträge der Mitglieder gebildet. Nur Mitglieder des Vereins erhalten aus dem Gesellschaftscapital Vorschüsse. Der Creditsuchende muß in der Regel Bürgen stellen od. einen Wechsel unterschreiben; einzelne Vereine bestimmen aber auch für jedes Mitglied eine Summe, bis zu welcher das persönliche Vertrauen des Einzelnen Credit gewährt. Von jedem Vorschuß sind Zinsen u. ein Beitrag zu den Verwaltungskosten als Provision zu entrichten; der etwa dabei gemachte Gewinn geht aber nur den Mitgliedern des Vereins selbst wieder zu Gute, indem derselbe nach dem Maße der Einlage als Dividende vertheilt wird. Um die Mitglieder zum Sparen zu gewöhnen, werden überdies auch von den Mitgliedern außer den Monatsbeiträgen noch andere Einzahlungen angenommen, durch welche ihr Capitalantheil u. folglich auch die Berechtigung zum Genuß der Dividende sich erhöht. Der Begriff der Unterstützung fällt bei dieser Art von V-n ganz hinweg, da der Theilnehmer nur ein Recht ausübt, indem er sich einen Vorschuß geben läßt. Nach einer in dem Jahresbericht für 1861 gegebenen Übersicht umfaßte der Geschäftsverkehr bei 188 solchen V-n, von denen viele erst in den letzten Jahren entstanden waren u. manche noch nicht einen Geschäftsabschluß von einem vollen Jahre geben konnten, 16,876,009 Thlr. an Vorschüssen u. Prolongationen, wovon 511,677 Thlr. an Zinsen u. Provisionen eingenommen wurden. Die Mitgliederzahl der 188 Vereine belief sich auf 48,760, der den Vereinen zu Gebote stehende Betriebsfonds auf 5,555,691 Thlr. u. darunter das eigene Vermögen an Anthelien der Mitglieder auf 799,375 Thlr. u. im angesammelten Reserven auf 107,238 Thlr. Der erzielte Reingewinn war 78,055 Thlr.; an Verlusten durch Insolvenz von Schuldnern kamen 13,805 Thlr. vor, wovon aber bei weitem der größte Theil auf einen minder gut geleiteten Verein zu Dresden fiel. Außer den gedachten 188 Vereinen mochten im Jahre 1861 mindestens noch 120–130 andere derartige Vereine in Deutschland bestehen, einschließlich deren man die Gesammtsumme des zinstragenden Umsatzes aller dieser Vereine für 1861 auf 19–20 Mill. Thlr., ihre eigenen Fonds auf 1,200,000–1,500,000 Thlr. u. die Zahl der Theilnehmer auf 60,000 anschlagen kann. Gegenwärtig wird eine weitere Befestigung u. Ausdehnung des Geschäftes dieser V. durch Gründung eines Centralpunktes beabsichtigt, von welchem aus namentlich den einzelnen Kassen bei augenblicklichen Verlegenheiten eine Aushülfe gewährt werden soll.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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