Pythagŏras

Pythagŏras

Pythagŏras, 1) Sohn des Mnesarchos aus Samos, Philosoph, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des früheren griechischen Alterthums, dessen Wirksamkeit in die zweite Hälfte des 6. Jahrh. v. Chr. (ohngefähr 540–500) fällt. Über seinen Jugendunterricht u. seine Reisen erzählen seine Biographen, Porphyrios u. Jamblichos, welche sein Leben überhaupt ins Mährchenhafte u. Wunderbare ausgeschmückt haben, daß er als Knabe von den Chaldäern unterrichtet worden sei, von den Ägyptiern Geometrie, von den Phönikern Arithmetik, von den Magiern den Dienst der Götter u. die Führung des Lebens gelernt habe. Außerdem soll er Reisen in Arabien, Judäa, Indien, Kreta etc. gemacht haben; Herodot bezeugt von ihm zwar. nicht eine Reise nach Ägypten, aber doch Kenntniß ägyptischer Einrichtungen u. Lehren. Im vierzigsten Lebensjahre siedelte er nach Unteritalien in die Stadt Kroton über u. wurde hier der Mittelpunkt einer Gesellschaft gleichgesinnter Personen (Pythagoreischer Bund), welche auf religiös sittlicher Grundlage durch ihre eigenthümliche Lebensordnung u. besondere Symbole u. Gebräuche sich von der Masse abschloß. Die Aufzunehmenden wurden physiognomisch u. geistig geprüft u. hatten nach Einigen zwei, nach Anderen fünf Probejahre zu bestehen, während welcher sie den Verhandlungen der Gesellschaft nur zuhören durften (Echemythie, Pythagoreisches Schweigen), u. mußten den Worten des Meisters vertrauen; das αὐτὸς ἔφα (Er hat es gesagt) galt ihnen als Beweis; sie hießen Akusmatici, Exoteriker, im Gegensatze zu den Aufgenommenen, Mathematici od. Sebastici, Esoteriker). Alle Mitglieder waren an Mäßigkeit u. eine strenge Lebensordnung gebunden; über gewisse verbotene Speisen schwanken die Überlieferungen; die Todten wurden nach ägyptischer Sitte in wollenen Kleidern bestattet; auch Frauen waren Glieder des Bundes (Pythagoreische Frauen, Pythagorĭdes, z.B. Theano, Damno, Myia, Melissa etc.). Dieser Bund breitete sich über viele griechische Pflanzstädte in Unteritalien u. Sicilien aus, in denen zum großen Theil ein schlaff gewordener Herrenstand einer anspruchsvollen Demokratie gegenüberstand, u. seine Absicht in politischer Beziehung scheint gewesen zu sein, eine auf persönliche Tüchtigkeit sich stützende Aristokratie zur Geltung zu bringen. Aber dieses Unternehmen mißlang; an vielen Orten brachen, wie es scheint, gleichzeitig Aufstände gegen den Bund aus; dieser wurde gesprengt u. die einzelnen Mitglieder zerstreut, u. um 500 v. Chr. verlieren sich die Spuren seiner politischen Wirksamkeit (vgl. Krische, De societatis a Pythagora in urbe Crotoniatarum conditae scopo politico, Götting. 1831). Als persönlicher Gegner des P. wird ein gewisser Kylon genannt; P. ward nach Einigen im Aufstand getödtet, nach Anderen floh er u. starb in Metapontum den Hungertod. Von länger fortwirkendem Einfluß sind die wissenschaftlichen Bestrebungen des P. u. seiner Schule gewesen, wobei sich, da P. selbst nichts geschrieben hat u. die ihm beigelegten Schriften (Χρυσᾱ ἔπη [Aurea carmina], eine Sammlung von Sinnsprüchen, u. die Sphaera divinatoria de decubitu aegrotorum) ihm erst in nachchristlicher Zeit untergeschoben worden sind, nicht mehr entscheiden läßt, was von ihm selbst u. was von seinen Anhängern herrührt. Die Pythagoreische od. Italische Schule, unter deren Mitgliedern Philolaos aus Kroton, Archytas aus Tarent, Okellos aus Lukanien, Timäos aus Lokri, Alkmäon, Hippasos aus Metapontum, Hiketas aus Syracus, Eurytus, Klinias etc. vorzugsweise zu nennen sind, charakterisirt vor allem eine Vorliebe für geometrische, arithmetische u. musikalische Studien. P. selbst hat in der [725] Geometrie den Pythagoreischen Lehrsatz (s.d.), ebenso die Zahlenverhältnisse der musikalischen Intervalle entdeckt u. wurde durch die darauf gegründete Construction der Tonleiter der Begründer der gesammten Tonlehre des Alterthums (s. Pythagoreischer Kanon); nicht minder untersuchte er die Entstehung u. die Verhältnisse der Zahlen (vgl. Pythagoreische Tafel). In Verbindung mit diesen mathematischen u. musikalischen Studien steht auch die Richtung der Pythagoreischen Philosophie. Theils die Evidenz des mathematischen Wissens, theils die Bemerkung, daß die Unterschiede einzelner Erscheinungen, namentlich der Töne, sich auf Zahlenverhältnisse zurückführen lassen, scheint die Pythagoreische Schule auf den allgemeinen Gedanken geführt zu haben, daß die Principien der Zahlen auch die Principien der Dinge seien, daß also der Grund der Verschiedenheit der Dinge in den ihnen zukommenden Zahlen u. Zahlverhältnissen liege. Bes. wichtig war ihnen dabei der Unterschied der geraden u. ungeraden Zahlen, welchen sie mit dem Gegensatze des Unbegrenzten u. Begrenzenden dergestalt verbanden, daß z.B. Philolaos sagt, aus dem Unbegrenzten u. Begrenzenden sei unter Hinzutritt der Harmonie die Welt entstanden. Die Einheit (Monas), das Symbol Gottes, steht über diesen Gegensätzen. Von besonderer Bedeutung war ihnen die Zehnzahl, bei welcher sie schwuren (2 + 3 + 4 = 10, s. Tetraktys). Wie weit die Pythagoreer in der Anwendung ihrer Zahlenlehre auf einzelne Erscheinungen der körperlichen u. geistigen Welt gegangen sind, läßt sich nicht mehr feststellen; die symbolischen u. mystischen Spielereien, die sich in nachchristlicher Zeit bei Nikomachos aus Gerasa, Theon von Smyrna etc. finden, sind nicht altpythagoreisch; ein Grundzug ihrer Weltansicht aber ist, daß sie die Welt als ein harmonisch geordnetes Ganze sich dachten. Sie besteht ihnen aus zehn Sphären (dem Fixsternhimmel, den fünf damals bekannten Planeten, Saturn, Jupiter, Mars, Venus u. Mercur, der Sonne, dem Mond, der Erde u. der Gegenerde), die sich in harmonisch geordneten Abständen um das Centralfeuer bewegen (welches letztere sie auch den Herd des Alls, den Altar, das Haus des Zeus nannten), u. durch ihre Bewegung die dem menschlichen Ohre unvernehmbare Harmonie der Sphären hervorbringen. Der unter dem Monde liegende Theil der Welt ist der Sitz der Veränderlichkeit u. Unvollkommenheit, der über dem Mond liegende (der Olympos) das Gebiet ungetrübter Vollkommenheit. Bedeutungsvoll für die Geschichte der Astronomie ist es, daß Philolaos eine tägliche Bewegung der Erde um das Centralfeuer, Hiketas eine Bewegung der Erde um ihre Achse, Ekphantos u. Aristarch eine Achsenbewegung u. eine Bewegung derselben um das Centralfeuer angenommen haben sollen. Eine besondere von der in der Welt waltenden Gottheit verschiedene Weltseele nahmen sie nicht an. Die menschliche Seele leiteten sie von der die Welt durchdringenden göttlichen Kraft ab u. bezeichneten deren Wesen ebenfalls durch den Begriff der Zahl u. der Harmonie. Damit verbanden sie die Annahme der Seelenwanderung (s.d.), welche sie als einen Vergeltungs- u. Läuterungsproceß betrachteten. Die Ethik bildeten sie, obgleich der Ausdruck Pythagoreisches Leben zur Bezeichnung sittlichen Ernstes im Alterthum sprichwörtlich war, nicht systematisch aus; Bestimmungen, wie die der Gerechtigkeit, daß sie eine gleichmal gleiche Zahl sei, u. die Vergleichung des sittlichen Lebens mit einer wohlgestimmten Leier, verrathen, daß auch in ethischer Beziehung Harmonie, Gleichmaß, Ordnung ihnen vorzüglich wichtig war; die Leidenschaften vergleichen sie mit einem durchlöcherten Fasse, zu deren Bezähmung u. Beschwichtigung empfahlen sie ernste Selbstprüfung, eine fast ascetische Lebensordnung, bestimmte musikalische Tonweisen. Vgl. Pythagorae aurea carmina, Strasb. 1539, Par 1555 u. ö.; Pythagorae symbola, Rom 1607; nebst den übrigen angeblichen Schriften des P. auch in Gale Opuscula mythica et physica, Cambr. 1671; Glandorf, Sententiosa vetust. gnomic. opera, Thl. 1. Lpz. 1776 etc.; H. Ritter, Geschichte der Pythag. Philos., Hamb. 1820; E. Reinhold, Beiträge zur Erläuter. der pythagor. Metaphysik, Jena 1827; Brandis, Über die Zahlenlehre der Pythagoreer u. Platons im Rhein. Mus. Bd. 2.; A. Gladisch, Die Pythagoreer u. die Schinesen, Bresl. 1841; O. F. Gruppe, Über die Fragmente des Archytas u. der älteren Pythagoreer, Berl. 1844. Die Pythagoreische Lehre hatte nicht nur auf Plato (s.d.) einen bedeutenden Einfluß, sondern war für die gesammten mathematischen u. musikalischen Studien des Alterthums einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte. Im 1. u. 2. Jahrh. n.Chr. benutzten die Neupythagoreer die in ihr liegenden ascetischen u. mystischen Elemente, um sie entweder, wie Q. Sextius u. Sotion, u. in Verbindung mit einer unklaren Schwärmerei Apollonios von Tyana, zum Hebel einer Sittenreform zu machen, od. wie Anaxilaos aus Larissa, Moderatus aus Gades u. Nikomachos aus Gerasa (s.d. a.) in eine mystisch grübelnde Zahlensymbolik auszuspinnen. Diese sogenannte neupythagoreische Philosophie war eine vorübergehende Erscheinung, welche sich in den Neuplatonismus (s. Neuplatoniker) verlor. 2) P. aus Rhegium, um 470 v. Chr., Bildner, bes. von Athleten, Schüler des Klearchos u. einer der Vorläufer der höchsten Kunstblüthe. 3) Maler aus Paros.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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