Schießbaumwolle

Schießbaumwolle

Schießbaumwolle (Schießwolle, Explosive Baumwolle, Pyroxylin), entsteht, wenn Baumwolle kurze Zeit der Einwirkung von starker Salpetersäure ausgesetzt, dann sorgfältig ausgewaschen u. getrocknet wird. Braconnot hatte schon 1833 u. Pelouze einige Jahre später bei der Behandlung von Stärkmehl, Baumwolle, Leinwand, Papier u.a. organischen Substanzen mit Salpetersäure explosive Substanzen dargestellt (s. Xyloidin), eine größere Wichtigkeit erhielten aber diese Entdeckungen erst 1846 durch Schönbein, indem derselbe eine praktische Anwendung von der explosiven Kraft dieser Substanzen machte. Zur Darstellung der S. taucht man nach Ottos Vorschrift die Baumwolle 30 Secunden lang in concentrirte rauchende Salpetersäure, wie man sie durch Destillation von 10 Thl. Salpeter mit 6 Thl. Schwefelsäure erhält, preßt sie dann zwischen Glastafeln aus, wäscht sie so lange mit Wasser, bis alle Säure entfernt ist, u. trocknet sie in der Wärme. Statt der Salpetersäure kann auch eine Mischung von Salpeter u. Schwefelsäure benutzt werden. Nach Knop's Verfahren, welches eine S. von ausgezeichneter Güte liefert, mischt man gleiche Theile käuflicher englischer Schwefelsäure u. rothe rauchende Salpetersäure, kühlt die Mischung, wenn sie sehr heiß sein sollte, ab u. bringt so viel Baumwolle hinein, als sich unter gelindem Druck mit einem Glasstabe bequem untertauchen läßt. Nachdem man die Masse einige Minuten lang durchgeknetet hat, drückt man hic Baumwolle aus, wirft sie in Regenwasser u. zupft sie so schnell wie möglich aus einander, um vorläufig den größten Theil der Säure zu entfernen. Man wiederholt nun das Waschen mit Regenwasser mehrmals, drückt die Wolle stark aus, lockert sie dann durch sorgfältiges Zupfen möglichst auf u. trocknet sie bei gelinder Wärme. Die Baumwolle darf nicht zu lange in dem Säuregemisch gelassen werden, da sie sich sonst auflöst; angestellte Versuche haben gelehrt, daß die Bildung der S. schon nach einigen Minuten vollendet ist. Das Trocknen erfolgt bei etwa 99°, bei höherer Temperatur entzündet sich die S. zuweilen. Durch nochmaliges Behandeln der fertigen S. mit Salpetersäure erhält man eine S. von kräftigerer Wirkung. Die abgegossene u. ausgedrückte Säure kann, nachdem man sie durch Zusatz von etwas Schwefelsäure verstärkt hat, zu einer nochmaligen Operation benutzt werden; sie hat von der Baumwolle nichts als Wasser aufgenommen. 100 Gewichtstheile trockener Baumwolle liefern 169,5 Thle. S. Gut bereitete S. läßt sich dem Äußeren nach nicht von gewöhnlicher Baumwolle unterscheiden, sie wird aber durch Jod u. Schwefelsäure nicht mehr blau gefärbt. Sie verbrennt sehr leicht, bisweilen schon bei einer Temperatur von unter 100°, u. sehr schnell, so daß, wenn S. auf Schießpulver angebrannt wird, sie dasselbe oft nicht entzündet; auf der flachen Hand kann sie angebrannt werden, ohne den geringsten Schmerz zu verursachen. Bei ihrer Verbrennung entstehen Kohlensäure, Kohlenoxydgas, Stickoxydgas u. Wasser. In Schwefelsäure, in Essigsäure u. in Ätzkali ist sie etwas löslich; durch Eisenoxydulsalze läßt sie sich ohne Veränderung der Textur u. physikalischen Eigenschaften restituiren, der Stickstoff entweicht dabei als Stickoxydgas, das Eisenoxydul oxydirt sich höher. Auf eine noch nicht ganz erklärte Weise explodirt die S., zuweilen von selbst u. hat dadurch bereits mehrfache Unglücksfälle veranlaßt; beim Trocknen explodirt sie oft schon unter 100°, daher bei ihrer Bereitung im Großen Vorsicht nöthig ist. Die Zusammensetzung der S. wird verschieden angegeben u. ist wahrscheinlich auch je nach der verschiedenen Bereitungsweise verschieden. Man betrachtet die S. meist als eine Nitroverbindung, nämlich als Cellulose, welche Wasserstoff abgegeben u. dafür Untersalpetersäure aufgenommen hat, also als Nitrocellulose = C24H17 (5 NO4) O22, od. nach Crum C12H7 (3 NO4) O10. Pélouze u. Béchamp geben die Formel C24H17O17 + 5 NO5, Porret u. Teschemacher C12H8O8 + 4 NO5. Die Auflösung der S. in alkoholhaltigem Äther ist das in der Chirurgie u. Photographie so vielfach benutzte Collodium (s.d.). Die S. kann vermöge ihrer explosiven Kraft in manchen Fällen statt des Pulvers angewendet werden. Um den praktischen Werth der S. als Ersatzmittel für das Schießpulver zu prüfen, wurden bes. von der französischen u. englischen Artillerie ausgedehnte Versuche angestellt, deren Resultate jedoch anfangs weit hinter den gehegten Erwartungen zurückblieben. In Deutschland wurde zu dem Zweck in den Jahren 1848 u. 1847, dann 1850 u. 51 vom Bundestag eine Commission in Mainz niedergesetzt, welche gleichfalls zu der Überzeugung gelangte, daß die S. nicht geeignet sei mit Vortheil das Schießpulver zu ersetzen. Denn obgleich nach den Versuchen von Wachmann die Kraft der S. je nach der Art der Waffe drei- bis neunmal größer ist als die des Schießpulvers,[158] so war immer die nachtheilige Einwirkung der bei der Verbrennung sich entwickelnden salpetrigen Säure auf das Metall der Geschütze, bes. auf das Eisen der Gewehre, ein Hinderniß ihrer Verwendung für den Kriegsbedarf. Dazu kam, daß die S. nicht, wie das Pulver, abgemessen, sondern auf einer empfindlichen Wage gewogen werden muß, u. endlich der höhere Preis der S. in Vergleich zu einer in ihrer Wirkung gleichen Menge Schießpulvers. Erst in der neuesten Zeit hat die S. wieder Aufnahme gefunden, seitdem der österreichische Artilleriegeneral Lenk ein Präparat erzeugt hat, welches allen Anforderungen so vollständig entspricht, daß in Österreich 1851 Schritte gethan wurden die S. für den Artilleriebedarf statt des Pulvers ganz allgemein in Anwendung zu bringen u. in Folge dessen das hierzu von Lenk ins Leben gerufene Geschützsystem auf das gesammte Feldartilleriematerial zu übertragen. Die Verwendung der S. statt des Pulvers nach dem System von Lenk bietet in vielfacher Hinsicht wesentliche Vortheile dar. Die Geschütze dazu sind sehr leicht (das Rohr eines Dreipfünders wiegt z.B. 55 Pfund etc.); die Wirkung der Lenk'schen S. verhält sich zu der des Pulvers wie 3 : 1 u. ist bei Geschützen u. Kleingewehr bedeutend gleichmäßiger als die des Pulvers; sie zeigte nach 8 Jahren keinerlei die Wirkung des Präparats beeinträchtigende Veränderungen; längere Zeit in Wasser gelegene S. zeigte nach dem Trocknen ihre unveränderte Wirkungsfähigkeit. Die zerstörende Einwirkung der S. auf broncene u. eiserne Rohre sind gründlich beseitigt; nach 2000 scharfen Schüssen aus einem Lenk'schen Vierpfünder befand sich das Geschütz noch in völlig brauchbarem Zustande. Die von Lenk angegebene Bereitungsweise der S. ist einfach u. gefahrlos, liefert ein gleichmäßiges u. zum Transport geeignetes Präparat, welches beim Verbrennen nur äußerst geringe Rückstände gibt, beinahe gar keinen Rauch erzeugt u. bei welchem die Wirkungen des Rückstoßes viel geringer sind als bei Pulverladungen. Bes. geeignet zeigt sich die S. zum Sprengen. Die Sprengversuche bei Erdarbeiten ergeben, daß 1 Gewichtstheil S. 6 Gewichtstheile Pulver ersetzt, so daß man jedesmal statt 6 nur 1 Loch zu bohren u. zu laden hat. Auf die Beobachtung hin, daß die S. nicht hinlänglichen Sauerstoff zur vollständigen Verbrennung enthält u. die nach, dem Sprengen mit einer Petarde von 600 Gr. aus einer Spalte entweichenden Gase noch entzündet werden konnten, versuchte Combes die Wirkung der S. mit Zusatz von sauerstoffreichen Salzen. Er mischte zu diesem Behufe 500 Gr. S. mit 500 Gr. chlorsaurem Kali u. lud damit die Petarde, welche 3000 Gr. Sprengpulver fassen konnte. Der Erfolg entsprach der einer Petarde von 3000 Gr. Sprengpulver od. 2500 Gr. Schießpulver od. 900 Gr. reiner S., die Wirkung übertraf also die des Sprengpulvers um das 3,3fache. Es treten weder Dämpfe, noch Rauch, noch entzündliche Gase auf. Maurey beobachtete die freiwillige Zersetzung der S., welche schon zu den gefährlichsten Explosionen Veranlassung gegeben hat; er fand, daß in Fässern verschlossene u. an einem trockenen Orte aufbewahrte S. nach 31/2 bis 9 Monaten Zersetzung zeigte, stechend roch, Ameisensäure enthielt u. außerdem 1,6 bis 11,5 Procent Feuchtigkeit; die Zersetzung war stärker, bei derjenigen Baumwolle, bei deren Bereitung die meiste Schwefelsäure angewendet worden war. Diese Säure wird durch Waschen mit reinem Wasser nie vollständig entfernt. Mit alkalischem Wasser gewaschene S. hielt sich 6 bis 7 Monate lang ohne Zersetzung. Maurey ist der Ansicht, daß man jetzt noch kein Mittel kenne, um vor der freiwilligen Explosion der S. sicher zu sein. Nach Gaudins Beobachtungen sind die Wirkungen der S. verschieden, je nachdem sie mit einer Mischung von Salpeter u., Schwefelsäure, od. mit einer Mischung von Salpetersäurehydrat u. rauchender Schwefelsäure bereitet worden ist; Baumwolle, in letztere Mischung einige Secunden lang eingetaucht u. mit vielem Wasser gewaschen, gibt ein Product, welches in einem Schießgewehr die Kugel nicht forttreibt, sondern den Lauf zerschmettert. Pélouze empfiehlt die S. mit chlorsaurem Kali vermengt, zur Füllung der Zündhütchen. Derselbe Chemiker stellte die Idee auf, daß es möglich sein möchte, S. als Nahrungsmittel anzuwenden, indem man stickstofffreie Substanzen dadurch zu stickstoffhaltigen Nahrungsmitteln umwandele, daß man sie mit Salpetersäure verbände. Porret entdeckte in der S. einen eigenthümlichen Körper, welchen er Lignin nannte u. auf eine bloße Reaction gegen Lakmus hin, ohne Grund, für eine neue Pflanzenbase erklärte. Vohl empfiehlt zur Bekleidung von Glasflächen mit einem Silberspiegel S. in Kali unter Erwärmen zu lösen, zu der braunen Lösung einige Tropfen salpetersaures Silberoxyd zu setzen u. im Wasserbade zu erhitzen, wo bei einem gewissen Zeitpunkte das Gemisch sich schwarzbraun färbt, aufbraust u. alles Silber auf die Gefäßwandungen als einen Spiegel absetzt, welcher schöner sein soll, als der mittelst ätherischer Öle erzeugte.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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