Waisen [1]

Waisen [1]

Waisen, sind Kinder od. junge Leute, welchen vor ihrem Mündigwerden beide Eltern gestorben sind. Mit Wittwen u. W. wurde es im Alterthum in verschiedenen Staaten verschieden gehalten; z.B. in Sicilien beanspruchte unter der Regierung des Dionysius die Zinsen ihres Vermögens der König so lange, bis sie mündig wurden; in Korinth wurden die Pferde für die Reiterei von den eigens dazu umgelegten Steuern von Wittwen u. W. erhalten, ein Gebrauch, welchen auch Servius Tullius in der römischen Verfassung einführte, welchen aber P. Val. Publicola aufhob. Dagegen war Schutz u. Erziehung der W. schon in Athen ein Gegenstand der öffentlichen Sorge, u. Vormünder (Epitropoi Orphanon) zu bestellen war die Sache des ersten Archon; besondere Orphanophylakes (Waisenhüter) sorgten für den Unterhalt der W. der im Kriege Gebliebeyen auf öffentliche Kosten. Unrichtig werden von Einigen die bei den Römern seit Nerva vorkommenden Alimentationen, d.h. Stiftungen von Capitalien zur Erziehung unbemittelter freigeborener Kinder, auf die W. bezogen, wenigstens waren diese Stiftungen weder für W. bestimmt, noch auf dieselben beschränkt, sondern dadurch sollte, bei der immermehr wahrgenommenen Abnahme der römischen Bürgerschaft, der Abschluß legitimer Ehen begünstigt u. kinderreiche Familien belohnt u. bevorzugt werden. Erst durch das Christenthum wurde nach dem apostolischen Grundsatze, daß ein wahrer Gottesdienst sei über Wittwen u. W. in ihrer Noch Obsorge zu tragen, eine specielle Sorge zugleich mit den Armen, Kranken, Wittwen u. Verlassenen auf die W. verwendet u. besondere Waisenpfleger (Orphanotrophoi) angestellt u. Waisenhäuser (Orphanotropheia) errichtet. Nach der Regel des St. Basilius im 4. Jahrh. sollten verwaiste Kinder in den Klöstern freiwillig aufgenommen u. mit den andern, von deren Eltern dahin gebrachten Kindern erzogen werden. Auch soll von St. Basilius ein eignes Waisenhaus zu Cäsarea in Kappadocien gegründet u. vom Kaiser Valens u. reichen Privaten beschenkt worden sein, wie überhaupt später von den byzantinischen Kaisern, namentlich von Anastasius II. u. Leo III. auch gesetzlich für solche Kinder u. solche Anstalten gesorgt u. von Alexios 1090 ein Waisenhaus in Constantinopel gebaut wurde. Besonders erwarben sich in Europa im Mittelalter die durch Handel u. Gewerbe blühenden Städte um Waisenhäuser große Verdienste. In Deutschland kamen die ersten Waisenhäuser in den Reichsstädten vom 16. Jahrh. auf, namentlich wurde 1572 eins in Augsburg errichtet. In der Zeit des Spenerschen Pietismus wurden nach dem Muster des von A. H. Francke (s.d.) in Halle 1698 eingerichteten Waisenhauses mehre Waisenhäuser gestiftet. Die Waisenhäuser müssen, zur besseren Verpflegung u. Beschäftigung der Kinder, an einem gesunden, freien Orte liegen u. einen Hof u. Garten enthalten. Im Inneren müssen sich befinden: ein Schulsaal (zugleich., Betsaal), ein Speisesaal (zugleich zu körperlichen Übungen der Kinder), wenigstens zwei Schlafsäle, je einer für Knaben u. für Mädchen, außerdem die amtlichen Wohnungen. In neuerer Zeit sind die Waisenhäuser da, wo nicht besondere Stiftungen vorlagen, in Folge der veränderten Gesetzgebung über das Armenwesen zuweilen oft an die Communen übergegangen, indem denselben die Sorge für die W. obliegt. Man hat neuerlich gegen die Waisenhäuser mehrfache Bedenken erhoben u. es als schwierig bezeichnet einer so großen Zahl von Kindern die rechte leibliche u. geistige Pflege zu gewähren. Auch sei es bedenklich die Kinder aus ihrem gewöhnlichen Lebenskreise herauszuführen. Deshalb sucht man sie lieber in christlichen Familien unterzubringen. Im Königreich Sachsen werden W. seit 1830 bes. bei Familien auf dem Lande, u. zwar mehre bei verschiedenen Familien desselben Dorfes, untergebracht u. zur Landwirthschaft erzogen; solche gewissermaßen Waisencolonien gibt es bes. in Maxen, Dohna, Kötschenbroda, Burckartswalde. Man hat auch Militärwaisenhäuser, wo die Knaben für den Soldatenstand erzogen u. frühzeitig zum Militärleben gewöhnt werden. Ein solches ist in Potsdam, ein anderes (sonst königlich sächsisch) in Annaburg. Auch gibt es in den Fliednerschen Anstalten ein Waisenstift für evangelische verwaiste Töchter von Pfarrern, Lehrern u. gebildeten Familien, welche in einer eigenen Waisenschule eine Erziehung erhalten, wie sie für den Mittelstand Paßt. Über die mit den Waisenhäusern oft verbundenen Findelhäuser s.d. Vgl. Über die Erziehung der W. in gewöhnlichen Waisenhäusern od. durch einzelne Beköstigung, Hamb. 1780 (Preisschrift); Goldbeck, Über die Erziehung der Waisenkinder, ebd. 1781; Rulf, Wie sind Waisenhäuser anzulegen? Gött. 1783; Riecke, Soll man Waisenhäuser beibehalten? Stuttg. 1806; Pflaum, Über Einrichtung der Waisenhäuser, ebd. 1815; Kröger, Archiv für Waisen- u. Armenerziehung, Hamb. 1826–28, 2 Bde.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Waisen [2] — Waisen, so v.w. Orpheniten, s.u. Hussiten S. 637 …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Waisen — Sirotci (deutsch Die Waisen, tschechisch auch Sirotčí svaz oder sirotčí bratrstvo), war ein radikaler Flügel der Anhänger der Hussiten. Die Vereinigung, gegründet 1423, bestand meist aus Stadtadligen, die sich mit Jan Žižka und den ostböhmischen… …   Deutsch Wikipedia

  • Sager-Waisen — Familie Sager am Beginn des Oregon Trail Bei den Sager Waisen (Sager Orphans, Sager Children) handelt es sich um die insgesamt sieben leiblichen Kinder von Naomi und Henry (Heinrich) Sager. Die Familie brach im April 1844 mit einem Siedlertreck… …   Deutsch Wikipedia

  • Zwei Waisen im Sturm — Filmdaten Deutscher Titel Zwei Waisen im Sturm / auch Zwei Waisen im Sturm der Zeiten Originaltitel Orphans of the Storm …   Deutsch Wikipedia

  • Mickys Waisen — Filmdaten Deutscher Titel Mickys Waisen Originaltitel Mickey’s Orphans Pro …   Deutsch Wikipedia

  • Als wir Waisen waren — ist ein Roman des britischen Schriftstellers Kazuo Ishiguro. Das Buch ist 2000 unter dem Titel When We Were Orphans im Verlag Faber and Faber in London erschienen und wurde im gleichen Jahre von Sabine Herting ins Deutsche übersetzt. Der Roman… …   Deutsch Wikipedia

  • Vom Waisen zum Herrscher — Seriendaten Deutscher Titel: Nature Originaltitel: Nature Produktionsland: USA Produktionsjahr(e): seit 1982 Episodenlänge: etwa 60 Minuten Episodenanzahl …   Deutsch Wikipedia

  • Halbwaise — Waisen von Thomas Kennington, 1885 (Tate, London) Als Waise oder Waisenkind wird ein Kind bezeichnet, das einen oder beide Elternteile verloren hat. Hierbei wird zwischen sogenannten Vollwaisen, wobei beide Eltern gestorben sind, und Halbwaisen,… …   Deutsch Wikipedia

  • Sozialwaise — Waisen von Thomas Kennington, 1885 (Tate, London) Als Waise oder Waisenkind wird ein Kind bezeichnet, das einen oder beide Elternteile verloren hat. Hierbei wird zwischen sogenannten Vollwaisen, wobei beide Eltern gestorben sind, und Halbwaisen,… …   Deutsch Wikipedia

  • Vollwaise — Waisen von Thomas Kennington, 1885 (Tate, London) Als Waise oder Waisenkind wird ein Kind bezeichnet, das einen oder beide Elternteile verloren hat. Hierbei wird zwischen sogenannten Vollwaisen, wobei beide Eltern gestorben sind, und Halbwaisen,… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”