Blindenanstalten

Blindenanstalten

Blindenanstalten (Blindeninstitute), 1) Blindenheilanstalten, Anstalten, in denen Blinde geheilt werden; sie befinden sich meist in Universitätsstädten, z.B. Wien, Berlin, Leipzig, Halle etc., u. sind. hier wegen der Augenklinik nothwendig; 2) Blindenversorgungsanstalten, Anstalten, wo solche Blinde versorgt werden, deren Heilung nicht zu erwarten ist; sie sind gewöhnlich mit den Bildungsanstalten für Blinde verbunden. Die erste derartige war schon das von Ludwig IX. nach seinem Kreuzzuge 1260 als Quinzevingts in Paris zunächst für 300 in Ägypten erblindete Soldaten errichtet, in neuerer Zeit das in Wien, wo der Blindenlehrer F. W. Klein (geb 1765) mit seinem 1808 errichteten u. 1816 zur Staatsanstalt erhobenen Blindeninstitut eine Anstalt für männliche u. weibliche Blinde nach der Entlassung aus dem Unterricht verband, u. diese ward Muster für ähnliche Anstalten in Freiburg, München, Gmünd u.a. O. 3) Blindenunterrichtsanstalten, in denen Blinde unterrichtet u. gebildet werden. Bereits 1667 lehrte J. Bernoulli in Genf ein blindes Mädchen auf eine von ihm erfundene Art schreiben. Der blinde Saunderson bezeichnete auf einem von ihm erfundenen Rechenbret durch Nadeln die Zahlen u. löste durch gezogene Schnüre mathematische Aufgaben. Ebenso erfand der blinde Weißenburg in Manheim einen Apparat zum Lesen, Schreiben, Rechnen u. Notensetzen. Ein besonderes Alphabet (Knotenalphabet, Blindenalphabet) für Blinde erfanden 1822 die blinden Engländer Robert Milne u. David Macbeath, wodurch Blinde in den Stand gesetzt werden sollten, gegenseitig zu correspondiren. In neuerer Zeit gibt es viel bessere Hülfsmittel. Bei dem Unterricht der Blinden gelten die ersten Übungen der Unterscheidung der Gegenstände durch die gesunden Sinne, z.B. Steine, Holz u. Metalle durch das Gehör u. Gefühl, Hanf, Seide u. Baumwolle blos durch das Gefühl. Beim Lesen benutzt man statt der durchstochenen Schrift (Stachelschrift), die viel Raum wegnimmt u. nicht lange dauert, lieber die Preßschrift, bei welcher die Lettern durch eine starke Presse in Papier, welches durch Leim erweicht ist, abgedruckt werden, so daß es ein Relief gibt. In der Pariser Blindenanstalt befindet sich eine mit dieser Preßschrift gedruckte Bibliothek von 200 Bänden in klein Folio. Die von Lukas in England erfundene Chiffernschrift hat in Deutschland nicht viel Beifall gefunden. Beim Rechnen gebraucht man[890] ein mit vielen Löchern versehenes Bret, worein die Zahlen, kleine Holzpfosten mit ebensoviel Spitzen, als Einheiten bezeichnet werden sollen, gesteckt werden. Bei der Geographie wurden von Zeune statt der gestickten Karten die Reliefkarten eingeführt. In der Musik haben es die Blinden im Harfen- u. Flötenspiel am weitesten gebracht. Der Unterricht in Handarbeiten erstreckt sich auf Spinnen, Stricken, Flechten, Bandweben, Leder-, Papp-, Korb- u. Stroharbeiten, u. selbst auf Drechsler- u. Tischlerkunst. Durch diese Beschäftigungen werden den Blinden die Mittel zu ihrer weiteren Ausbildung bei Handwerkern, welche in manchen Ländern Prämien aus Staatskassen erhalten, u. zu ihrem künftigen Erwerb an die Hand gegeben. In manchen Arbeiten, z.B. im Flechten, Sticken u. Spinnen haben sie mit denen gewetteifert, die sehen können. Hervorragend durch wissenschaftliche Bildung waren die Engländer Saunderson, der als Professor der Mathematik in Cambridge wirkte; ferner Thom. Blacklock, Prediger. in Edinburg, u. Joh. Metcalf in Manchester, welcher den Straßenbau beaufsichtigte u. nach selbständigen Plänen u. Berechnungen mehrere neue Straßen anlegte. Außer Knie (s. unten) besuchte ein anderer Blinder alle 5 Welttheile, umschiffte die Erde u. gab eine Beschreibung seiner Reise heraus. Die Blindenanstalten zur Bildung der Blinden entstanden zuerst in Frankreich, wo Valentin Hauy, angeregt durch die blinde Harfenspielerin v. Paradis, 1784 in Paris ein Lehrinstitut für Blinde gründete. Aus Verdruß darüber, daß seine Anstalt mit den Quinze-vingts verbunden wurde, folgte er mit seinem Schüler Fournier 1806 einem Rufe nach Rußland, wo er 1807 in Petersburg auf Befehl des Kaisers Alexander eine gleiche Anstalt gründete. In Berlin wurde er dem König Friedrich Wilhelm III. vorgestellt, u. dadurch die Veranlassung zur Errichtung der ersten B. in Preußen zu Berlin gegeben, dessen erster Vorsteher Aug. Zeune wurde. Seit 1815 wurde das Institut für 316 Zöglinge erweitert, welche zum Theil im Hause, zum Theil in der Stadt wohnen. Andere derartige Anstalten entstanden 1819 in Breslau unter dem blinden Joh. Knie, einem Schüler von Zeune, der eine Beschreibung seiner, ohne einen Begleiter unternommenen Reise durch Deutschland herausgab; 1829 in Halle durch die Brüder Krause; 1845 in Königsberg durch den blinden Flötenvirtuosen Friebe, bes. unterstützt durch Bülow v. Dennewitz u. den als Schriftsteller bekannten Blinden Ludwig v. Bazko. In Österreich wurde das von Klein zu Wien errichtete Institut (s. oben), Vorbild für ähnliche Anstalten im Kaiserstaate, z.B. in Prag, die v. Platzer 1808 begründete, 1824 in Linz, durch Engelmann begründet u. seit 1836 Provinzial-B.; 1837 in Brünn, 1825 in Presburg, seit 1827 in Pesth, 1837 in Mailand. Während man sich nun in Süddeutschland, z.B. in Baden, wo die 1820 von Müller in Mariahof bei Donaueschingen gegründete u. 1828 zur Staatsanstalt erhobene B. nach Bruchsal verlegt wurde u. sich jetzt in Freiburg befindet; in Baiern, wo die 1826 in Freising gegründete B. jetzt in Münch en sich befindet; u. in Württemberg, wo die 1823 in Gmünd gegründete B. jetzt mit der Taubstummenheilanstalt verbunden ist, die österreichischen Anstalten zum Muster nahm; richtete man sich dagegen in Sachsen mehr nach den Berliner Einrichtungen, so in der B. zu Dresden, gestiftet 1809 von Flemming, zuerst geleitet von Steckling u. seit 1829 mit der Blindenversorgungsanstalt verbunden. Sonst gibt es in Deutschland noch B.: seit 1829 zu Braunschweig, von dem Arzt Lachmann, 1830 zu Hamburg, Frankfurt a. M. u. Hannover. Im Ausland gibt es B.: in Frankreich, außer den oben genannten, in Paris noch in Bordeaux, Nancy, Caen u.a. Provinzialstädten; in Großbritannien, wo sie meist durch Privatmildthätigkeit erhalten werden, seit 1791 in Liverpool, 1793 u. 1835 zu Edinburg, 1793 zu Bristol, 1799 zu Dublin, 1799 zu London, 1805 zu Norwich, 1828 zu Glasgow, 1835 zu York, 1837 zu Manchester; in Holland zu Amsterdam, wo sich 1809 die Freimaurer der Sache annahmen; in der Schweiz, seit 1809 zu Zürich, wo die Hülfsgesellschaft u. der Professor Hirzel thätig mitwirkten, u. seit 1837 zu Bern; in Dänemark, seit 1811 zu Kopenhagen; in Schweden seit 1808 zu Stockholm; in Polen seit 1817 zu Warschan; in Italien außer zu Mailand noch seit 1818 zu Neapel; in Nordamerika seit 1831 zu Boston u. seit 1832 zu Philadelphia. Vgl. Hauy, Essai sur l'éducation des aveugles, Par. 1786; A. Zeune, Belisar, Berl. 1808, 4. A. 1834; Klein, Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden, Wien 1819; Jäger, Die Behandlung blinder Kinder, Stuttg., 2. A. 1831; Klein, Gesch. des Blindenunterrichts u. der B., Wien 1837.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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