Erziehung

Erziehung

Erziehung, die absichtliche u. zweckmäßige Einwirkung Erwachsener auf Kinder, um die Anlagen u. Fähigkeiten derselben durch naturgemäße harmonische Entwickelung dahin auszubilden, daß sie ihre Vervollkommnung selbständig fortzusetzen vermögen. Die E. wird eingetheilt in die allgemeine u. besondere: A) die allgemeine E. ist die E. des Menschen als solchen, ohne Rücksicht auf seine besondern Verhältnisse; sie ist a) eine körperliche (physische) E. u. b) eine geistige, die sich theils mit Verstandesbildung (intellectuelle), theils mit Gefühlsbildung (physische, ästhetische) u. theils mit Willensbildung (moralische E.) beschäftigt. B) Die besondere E. nimmt auf die besonderen Verhältnisse im Menschenleben Rücksicht u. zerfällt a) in Hinsicht des Geschlechts in Knaben- u. Mädchen-E., b) hinsichtlich des Standes u. der künftigen Bestimmung, in E. des Landmanns, Bürgers, Gelehrten, Militärs, Adels, Fürsten; c) hinsichtlich ihrer Art in häusliche (Familien-E., Privat-E.) u. öffentliche (E. in Anstalten u. Schulen). Die gesammte E. beschäftigt sich mit einem Dreifafachen: mit dem Entwickeln, indem sie die Entfaltung der Kräfte u. Anlagen befördert, u. dieselben durch passende Übungen stärkt; mit dem Bilden, indem sie die Kräfte gleichmäßig u. gleichzeitig harmonisch zu entwickeln sucht; u. mit dem Heilen, indem sie die verbildeten u. entarteten Kräfte wieder in ihre natürliche Richtung bringt. Daher hängt die Erziehungskunde (Erziehungswissenschaft, Pädagogik) innig mit der Psychologie, aus welcher sie die Kenntniß der zu bildenden Seele entnimmt, u. mit der Ethik, welcher sie die höchsten Zwecke des menschlichen Lebens entnimmt, innigst zusammen. Die Regeln der Erziehungskunde wendet die Erziehungskunst (Praktische Pädagogik) praktisch an.

Die E. bildete sich theils mit dem Familienleben als Familien-E. aus, theils machte sie sich in den Ländern geltend, wo die Hierarchie der Priester od. die Herrschaft der Könige das Regiment führte. Daher gab es Priesterschulen in Ägypten, worin z.B. Moses erzogen wurde, Prophetenschulen unter den Hebräern u. ähnliche E-sanstalten bei den Druiden in Gallien, bei den Persern, Indern etc. meist mit eigenthümlichen Geheimlehren. Hierbei wurde aber die E. des weiblichen Geschlechts bei den alten Völkern vernachlässigt u. nur die E. der männlichen Jugend gefördert. Vorzüglich war in Griechenland die E. schon in den ältesten Zeiten ein Gegenstand der häuslichen Sorgfalt (s. Griechenland [Ant.], u. vgl. Fr. Jakobs, Über E. der Griechen, Lpz. 1808); bes. in Athen (s.d. [Ant.]), wo überhaupt in der E. viel Rücksicht auf die geistige Ausbildung, bes. in den Schulen der Philosophen u. Sophisten, genommen wurde; in Sparta (s. Lakonika [Ant.]), wo bei der E. nur das künftige Staatsbürgerthum berücksichtigt wurde; auch in Rom, namentlich unter den Kaisern Vespasian u. Antoninus Pius, wo bei der E. mehr auf geistige Ausbildung Rücksicht genommen wurde (s. Rom [Ant.]); die Germanen (s.u. Deutschland [Ant.]) sorgten nur für das physische Wohl ihrer Kinder, wogegen alle Geistesbildung ausgeschlossen war. Unter den östlichen Völkern zeichneten sich rücksichtlich der E. der Jugend bes. die Perser (s.u. Persien [Ant]), die Ägyptier (s.d. [a. Geogr.]) u. die Juden[881] aus, bei welchen Letzteren das Kind im Schooße der Familie aufwuchs u. früh auf das Gesetz Jehovahs hingewiesen wurde, es nahm früh Theil an allen religiösen Ceremonien, den Festreisen etc.; u. dadurch, sowie durch den Unterricht, der namentlich sich auf die Geschichte u. heiligen Bücher des Volks bezog, entstand religiöse National-E.

Da das Christenthum das gesammte Menschenleben durchdrang, mußte durch dasselbe auch eine gänzliche Umwandlung der E. erfolgen. Einflußreich auf die E. wurde das Christenthum zunächst dadurch, daß es das eheliche Verhältniß heiligte, wodurch ein reines Familienleben entstand, daß es den Geist der Liebe in die E. einführte u. strenge Sitten, Selbstverleugnung u. Gottergebung wirkte. Bald ging man aber darin sogar zu weit u. schloß sich von allem Weltlichen ab; der Culminationspunkt davon ist das Mönchsthum, das dann wieder in dieser Periode bedeutend auf E. u. Unterricht einwirkte. Besonderen Einfluß hatte das Christenthum auf die E. des weiblichen Geschlechts, da es allen Menschen gleiche Rechte zuerkannte. Wenn aber durch das Christenthum in dieser Periode noch nicht so viel gewirkt wurde, wie man erwarten sollte, so lag dies zum guten Theil in dem fehlerhaften Geiste, der sich im Christenthum selbst entwickelte. Bei den einzelnen Völkern finden sich keine besonderen charakteristischen Eigenthümlichkeiten der E., da das Christenthum derselben einen allgemeinen Charakter gegeben hat; die Volks-E. wurde überall Familien-E. Über die öffentliche E. dieser Periode, s.u. Schule. Die Reformation, welche das Christenthum auf seine ursprüngliche Reinheit zurückführte, mußte den wesentlichsten Einfluß auf die E. haben. Luther, Melanchthon, Zwingli u. die mit ihnen verbundenen u. durch sie gebildeten Männer wendeten ganz bes. ihre Aufmerksamkeit darauf. Auch die Katholiken blieben nicht ganz zurück in dem E-wesen, u. bes. nahmen sich unter ihnen die Jesuiten der Jugend-E. an; sie wirkten bes. auf Geschmeidigkeit des Charakters u. Gefälligkeit der äußern Sitten; strenge Sittlichkeit beabsichtigten sie nach ihren laxen moralischen Grundsätzen freilich nicht. Seit dieser Zeit entwickelten sich einzelne Systeme der E. Schon Baco von Verulam im 16. Jahrh. stellte geistreiche u. neue Ideen über E. auf, die von Ratich, Helwig, Comenius aufgenommen wurden. Auf gleiche Ideen baute Montaigne, dessen Grundsatz war: Alles kommt auf Verstandescultur an, kein Zwang beim Lernen, nicht viel, nur das Nützlichste u. Beste, mehr Sach als Wortkenntniß, keine gewaltthätige, finstere Behandlung, dadurch werden die Kinder feig u. boshaft, viel körperliche Übung u. Ausbildung. Seine Ideen bildete Locke zu einem völligen System. Sein Grundsatz war: Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper. Er verlangt Abhärtung des Körpers, liberale Strafen, mehr Gewöhnung als Gebote u. Verbote; am besten die häusliche E. bei der Vertraulichkeit zwischen Eltern u. Kindern; die Herrschbegierde u. Selbstsucht zu unterdrücken, das Lügen als schädlich darzustellen, Religion u. Tugend durch einfache Mittel zu lehren; das Kind lerne spielend (Anfang zum Philanthropinismus, s. unt.). Vollkommene Ausbildung erhalte der Jüngling durch Sprachen, Wissenschaften, Künste, Reisen. Das Gemüth ist bei seiner Methode ganz vernachlässigt. Diese Männer hatten auf Bildung deutscher Pädagogen zum Theil großen Einfluß, indeß wichen andere von ihnen sehr ab. Es bilden sich überhauptim 18. Jahrh. in Deutschland verschiedene Richtungen in der E. Die pietistische Richtung, gegründet durch Spener u. bes. A. H. Francke. Hauptgrundsätze: beständige u. genaue Aufsicht, ernste Milde u. Liebe, gute körperliche Ausbildung, auch Reisen, beständige Rücksicht auf die zukünftige Bestimmung u. Stellung in der Welt, klassische Sprachen u. Wissenschaften sind gut, aber nothwendig nur zur Ausbildung von Gelehrten, die Hauptsache ist die Frömmigkeit, die überall vorwalte. Vorzügliche Pädagogen dieser Schule: J. A. u. G. A. Freylinghausen, J. G. Knapp, G. A. Franke, J. Lange, J. J. Rambach, G. Freyer, G. Sarganeck, von Zinzendorf, J. G. Hoffmann, Steinmetz, J. J. Hecker, A. F. Büsching u. v. A. Verwandt dieser Schule ist die E. der Jansenisten von Port-Royal u. Fénélons in Frankreich. Die Humanistische Schule wirkte nur in Bezug auf E. zu den gelehrten Ständen. Die Strengern derselben erwarteten alles Heil von dem Studium der alten Sprachen, verwarfen auf Schulen das Treiben der Realien u. verwiesen die Wissenschaften auf die Universität; die Gemäßigteren betrachteten zwar auch die alten Sprachen als Hauptsache in der Schulbildung, forderten aber dabei eine gute Methode u. verwarfen die Realien u. die Wissenschaften nicht. Die berühmtesten Humanisten sind: C. Cellarius, J. M. Gesner, J. A. Ernesti, Morus, Reiske, Beck, Heyne, Schütz, J. H. Voß, Fr. A. Wolf, Creuzer u. v. A. Der humanistischen Pädagogik entgegen stand die des Philanthropinismus, nach Lockes Vorgang begründet durch J. J. Rousseau. Seine Ideen bildete bes. Basedow aus (s. Philanthropinismus). An sie schlossen sich an v. Rochow u. Pestalozzi, der bes. einflußreich auf die E. in der neueren Zeit geworden ist, während Salzmann auf gleichen Grundsätzen seine berühmte Anstalt zu Schnepfenthal aufbaute, vgl. Niethammer, Streit des Philanthropinismus u. Humanismus, Jena 1808. In der neueren Zeit trat die realistische Richtung hervor, die zwar überhaupt die humanistischen Studien beschränkt u. mit Realien u. neueren Sprachen ins Gleichgewicht gebracht, bes. aber nach dem künftigen Berufe des Kindes schon früh die Schul-E. eingerichtet u. künftigen Kaufleuten, Ökonomen, Forstmännern, Cameralisten etc. mit Verwerfung aller humanistischen Bildungsmittel u. Ableugnung auch des formellen Nutzens derselben, nur eine entsprechende realistische u. linguistische Bildung gegeben wissen wollte, vgl. Realschulen. Viele Pädagogen der neueren Zeit gehören den Eklektikern an, d.h. sie haben aus den zuletzt genannten Richtungen das Beste ausgewählt u. in der Anwendung zu vereinigen gesucht; sie vermeiden das Einseitige der späteren Pietisten u. stricten Humanisten, das Verderbliche des Philanthropinismus, namentlich in Bezug auf Wissenschaftlichkeit u. Religiosität der Kinder, u. das Seichte des Realismus, erstreben dagegen eine den ganzen Menschen durchdringende wissenschaftliche u. religiöse E., achten das Studium der alten Klassiker als formales Bildungsmittel u. haben sich das manichfache Gute des Philanthropinismus angeeignet. Auch auf die Ausbildung der Körperkräfte u. die Erhaltung körperlicher Gesundheit ist ein Hauptangenmerk der neuesten E-smethode gerichtet worden. [882] Endlich hat sich auch die positive religiöse Richtung auf dem Gebiete der E. geltend gemacht, welche bes. von Goltzsch, Völter, Palmer u. A. vertreten wird u. welche an dem Grundsatz festhält, daß alle E., die öffentliche wie die häusliche, ihren Ausgangspunkt vom Christenthum zu nehmen hat. Vgl. Locke, Thoughts on education; J. J. Rousseau, Emile; J. Paul Fr. Richter, Levana; Schwarz, Erziehungslehre, Lpz. 1829, 2. Aufl., 3 Bde.; Niemeyer, Grundsätze der E. u. des Unterrichts, 9. Aufl., Halle 1836, 3 Bde.; Pölitz, Erziehungswissenschaft, Lpz. 1806, 2 Thle.; Herbart, Allgemeine Pädagogik, Götting. 1806; Hergenröther, Erziehungslehre, 2. Aug., Sulzb. 1830: Blasche, Erziehungswissenschaft, Gieß. 1828; Benecke, Erziehungs- u. Unterrichtslehre, Berl. 1832, 2 Bde.; Gräfe, Allgemeine Pädagogik, Lpz. 1845, 2 Bde.; Cramer, Geschichte der E. u. des Unterrichts, Lpz. 1832–38, 2 Bde.; K. v. Raumer, Geschichte der Pädagogik, Stuttg. 1843–52, 3 Bde.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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