Verrenkung

Verrenkung

Verrenkung, 1) (Luxatio, Exarthrema), Verschiebung der zu einem Gelenk vereinigten Knochenenden. Verschiebungen unbeweglich vereinigter Knochen (Synchondrosen, Symphysen) nennt man Diastasen. Die V. ist vollkommen (L. completa), od. unvollkommen (L. incompleta), wenn die entsprechenden Gelenkflächen nicht ganz von einander gewichen sind, im geringsten Grade Verdrehung, Verstauchung (Distorsio) genannt. Die V. ist complicirt (L. complicata), im Gegensatz zu der einfachen (L. simplex), wenn zugleich Wunden od. Knochenbrüche damit verbunden sind. Ferner unterscheidet man eine frische V. (L. recens) von der veralteten (L. inveterata), welche letztere oft schwer od. gar nicht zu beseitigen ist. Der ausgetretene Gelenkkopf bleibt an der Stelle, wohin er zuerst auswich (L. primitiva), od. wird durch Muskelwirkung an eine andere Stelle hingezogen (L. consecutiva). Zum Unterschied von der gewaltsamen V. (L. violenta) nennt man die durch Krankheiten der Gelenktheile sich allmälig bildende V. eine freiwillige V. (L. spontanea), s. Arthrokake. Zeichen der V. sind gänzlicher od. theilweiser Verlust der freien schmerzlosen Bewegung des Gliedes, veränderte Gestalt u. Lage des Gliedes u. der Form des Gelenkes. Oft sind V-en wegen bereits eingetretener Geschwulst schwer zu erkennen. Als Ursachen sind äußere Gewaltthätigkeiten, aber auch heftige Muskelzusammenziehungen anzusprechen. Je freier das Gelenk ist, wie am Oberarm, desto leichter entsteht eine V. Bei den meisten V-en werden das Kapselband u. die übrigen Gelenkbänder zerrissen, zuweilen sogar Sehnen u. Muskeln der Nachbarschaft. Wird der Gelenkkopf schnell wieder in seine Gelenkhöhle gebracht, so entstehen gewöhnlich keine bedeutenden Zufälle; bleibt er länger in der falschen Lage, so entsteht entzündliche Anschwellung der ihn umgebenden Theile, die Gelenkhöhle füllt sich nach u. nach aus, um den Gelenkkopf bildet sich eine Art Kapsel, u. liegt er auf einem Knochen auf, so entsteht in diesem eine künstliche Gelenkgrube. Einfache V-en können zumeist leicht wieder eingerichtet werden, complicirte dagegen können selbst die Amputation nothwendig machen. Bei der Heilung der V. kommt es a) auf Zurückbringung des ausgetretenen (dislocirten) Gelenkkopfes an (Einrichtung, Repositio), u. zwar geschieht dies durch Ausdehnung u. Gegenausdehnung (Extensio u. Contraextensio) u. durch Druck auf den Gelenkkopf, welchen man entweder mit bloßen Händen, od. mittelst zusammengeschlagener Tücher, od., zumal früher, mittelst des Flaschenzuges bewerkstelligt. Selten gelingt die Reposition noch nach Monaten; b) auf Befestigung des Gelenkkopfes in seiner Höhle mittelst eines Verbandes; c) auf Entfernung der begleitenden Zufälle wie der Entzündung durch kalte Umschläge.

Die wichtigsten V-en sind folgende: a) V. der unteren Kinnlade, entweder beider Gelenkköpfe, od. nur des einen. Die untere Kinnlade steht dabei mit den Schneidezähnen über die obere Zahnreihe vor; sie entsteht durch äußere Gewalt, od. auch beim Erbrechen u. Gähnen. Die Einrichtung geschieht durch Druck auf die hinteren Backenzähne. b) V. der Wirbel; V. des festen Gelenkes zwischen erstem Halswirbel u. dem Hinterhaupte ist kaum denkbar ohne tödtliche Verletzung des Rückenmarkes. Bei V. des zweiten Halswirbels kann durch Eindrücken des abgebrochenen Zahnfortsatzes, Druck u. Zerreißung des Rückenmarkes das sogen. Halsbrechen (s.d.) bedingt werden u. Hülfe ist unmöglich. V. der übrigen Wirbel ist meist durch Knochenbruch complicirt u. fast in allen Fällen tödtlich od. Lähmung des Rückenmarkes bedingend. c) V. der Beckenknochen wegen der festen Verbindung dieser Knochen nur durch heftige Gewalt möglich u. fast stets nicht ohne Verletzung der Eingeweide, welche den Tod od. langjährige Leiden herbeiführen können. Das Schwanzbein kann nach innen od. nach außen (bei schwierigen Geburten) verrenkt werden, läßt sich aber leicht einrichten. d) V. der Rippen höchst selten, wenigstens in ihrer Verbindung mit den Wirbeln, eher noch Verschiebung der Rippenknorpel. e) V. des Schlüsselbeins, indem das Brustende vor- od. rückwärts, das Schulterende nach oben ausweicht. f) V. des Oberarms, am häufigsten unter allen V-en wegen der freien Beweglichkeit des Schultergelenks, ist nach drei Richtungen möglich: nach unten, wobei der Gelenkkopf auf dem vorderen Rande des Schulterblatts in der Achselgrube steht; nach innen, wobei der Gelenkkopf unter den großen Brustmuskel entweicht; nach außen in die Untergräthengrube des Schulterblatts. Die Methoden der Einrichtung sind verschieden. g) V. des Vorderarms, entweder aus der Gelenkverbindung mit dem Oberarm od. der beiden Vorderarmknochen einzeln; die erstere ist selten u. stets mit Zerreißung der Weichtheile verbunden, am ehesten kommt sie nach hinten vor, nach vorn ist sie ohne gleichzeitigen Bruch des Ellenbogenknorrens nicht möglich. Die Speiche kann nach vorn verrenkt werden, eine isolirte V. der Ellenbogenröhre wird bezweifelt. h) V. des Handgelenks, entweder der beiden Knochen des Vorderarms, der Speiche od. der Ellenbogenröhre, doch selten. i) V. der einzelnen Knochen der Hand, in ihrer Verbindung mit dem Vorderarme, sind unvollkommen, nur der Mittelhandknochen des Daumens ist einer vollständigen V. aus seiner Verbindung mit dem großen viereckigen Beine fähig; die Phalangen der Finger können nach vorn u. nach hinten luxirt werden u. wieder am häufigsten des Daumens. k) V. des Oberschenkels kann nach vier Richtungen stattfinden: nach oben u. hinten auf den Rücken des Darmbeins; nach unten u. innen in das eirunde Loch, nach unten u. hinten in den Sitzbeinausschnitt, nach oben u. vorn auf den horizontalen Ast des Schambeins; erstere ist am häufigsten, am seltensten letztere. Die Einrichtung ist schwieriger, wie bei allen anderen V-en. Zuweilen kommt bei Kindern eine freiwillige V. des Oberschenkels (Luxatio femoris congenita)[509] vor, wo der Gelenkkopf des Oberschenkels nach außen u. oben auf das Darmbein ausgewichen ist; zeigt sich zumeist an beiden Hüften u. ist Folge von Gewalt bei der Geburt od. früherer Gelenkleiden. l) V. der Kniescheibe nach außen od. innen od. um die Längenachse, nach Zerreißung des Kniescheibenbandes auch nach oben. m) V-en des Knies sind selten wegen der außerordentlichen Festigkeit des Gelenkes. Dagegen n) V-en des Fußgelenkes sind häufig u. lassen Steifigkeit des Gelenkes befürchten, öfters wenigstens bleibt eine solche Schwäche der Bänder zurück, daß gar leicht eine neue V. eintritt. o) V. der Fußwurzelknochen, vorzüglich des Fersenbeines in Folge eines Falles auf die Ferse; 2) übertriebene, obschon mögliche Attituden.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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