Völkerrecht

Völkerrecht

Völkerrecht (Jus gentium, Äußeres Staatenrecht, Internationales Recht, fr. Droit des gens, Droit international), der Inbegriff der Rechtsverhältnisse der Staaten in ihren gegenseitigen Berührungen unter einander. Es ist eine früher vielfach erörterte Frage, ob es überhaupt ein solches V. gebe u. ob dasselbe überall als gleichen Inhaltes zu betrachten sei. In erster Beziehung gibt es zwar für die Geltendmachung von Rechtsverhältnissen unter gleichberechtigten, freien Staaten keine gesetzgeberische, von höherer Gewalt ausgehende Gestaltung, so wie es auch an einer organischen Richtergewalt mangelt; nichtsdestoweniger ist deshalb die Existenz des V-es nicht abzuläugnen, da sich die Beobachtung gewisser Grundsätze des Handelns auch ohnedies doch mit Nothwendigkeit geltend macht u. die erwähnten Mängel hier durch die Wacht der öffentlichen Meinung ausreichend ersetzt werden. In der zweiten Beziehung hat aber das V. so gut, wie jedes andere Recht, für die verschiedenen Völker u. Staaten der Erde auch seine verschiedenartige Entwickelung gehabt. Ein anderes V. wird von den wilden Völkerschaften, ein anderes im Orient, ein anderes im Occident befolgt, u. selbst unter denselben Nationen sind die Grundsätze desselben im Laufe der Zeit mannigfacher Veränderungen unterworfen gewesen. Die umfassendste Ausbildung hat dasselbe unter den Staaten des christlichen Europa erhalten u. sich in dieser Form auch in dem Verkehr mit den von hier aus gegründeten Staaten zur Geltung erhoben. In der Regel wird daher auch unter V. zunächst immer das Europäische V. verstanden. Seiner Quelle nach wird dasselbe gewöhnlich in ein natürliches (philosophisches) u. positives V. getheilt. Das natürliche V. begreift die Grundsätze, welche schon aus einer[654] inneren Nöthigung anzuerkennen sind u. welche daher kein Staat dem anderen gegenüber verläugnen darf, wenn er dauernd u. mit Sicherheit an dem allgemeinen Staatenverkehr Theil nehmen will. So ist von selbst in dem Wollen eines friedlichen Nebeneinanderbestehens das Recht der freien Persönlichkeit der einzelnen Staaten enthalten; aus derselben Grundlage ergibt sich auch schon das Recht der Verträge u. Gesandtschaften, aus dem Ausschluß eines mit einem geordneten Verkehr unverträglichen ewigen Kriegszustandes das Gesetz einer nicht unmenschlichen Kriegführung. Das positive V. umfaßt die Grundsätze, welche durch deutliche Willenserklärungen der betheiligten Staaten sanctionirt sind. Diese ergeben sich theils durch die allseitige, stillschweigende od. ausdrückliche Anerkennung eines solchen Grundsatzes, theils durch den Inhalt u. Geist der Staatsverträge, so weit diese allen Staaten, welche an dem völkerrechtlichen Verkehr Theil nehmen, gemeinsam sind, theils durch die allgemeine gleichförmige Anwendung u. Beobachtung des nämlichen Grundsatzes in gleichartigen Fällen, wobei einerseits die Meinung von einer Verpflichtung gegen den Anderen, andererseits dessen Meinung von einem Forderungsrecht vorwaltet, das Staatenherkommen od. die Staatenobservanz, verschieden von der sogenannten Staatsgalanterie (s.d.) u. dem blos einseitigen Völkergebrauch, welche nur aus Rücksichten der Höflichkeit u. Menschenliebe angewendet werden, ohne daß damit Anderen ein Recht eingeräumt werden soll. Neben diesem allgemeinen V. kann sich aber zwischen bestimmten Staaten durch besondere Verträge auch noch ein besonderes V., ausbilden, welches nur für den Verkehr dieser bestimmten Staaten Geltung hat. Dem Gegenstande nach zerfällt das V. in das V. des Friedens als den Inbegriff der Rechtsgrundsätze, welche in Absicht auf friedliche Zustände in Geltung bestehen, u. das V. des Krieges, gewissermaßen die proceßrechtliche Seite des V-es, in welcher die Wege der internationalen Rechtsverfolgung dargelegt weiden. Verschieden von dem V. als einer rein juristischen Disciplin ist die äußere Politik der Staaten, insofern man unter dieser nur die praktischen Klugheitslehren von dem richtigen Verhalten eines einzelnen Staates gegen Die anderen versteht. Ein Widerspruch zwischen V. u. Politik, wenn er auch in der Praxis öfters vorhanden ist, sollte eigentlich nicht stattfinden. Eine sittlich correcte Politik kann niemals billigen u. thun, was das V. verwirft, u. andererseits muß auch das V. gelten lassen, was das Auge der Politik für die Existenz u. die wesentlichsten Interessen eines Staates für nothwendig erkennt.

In Betreff der geschichtlichen Entwickelung des Europäischen V-es findet sich, daß zwar schon in der alten Welt im wechselseitigen Verkehr der Völker gewisse übereinstimmende Völkergebräuche, vornämlich in Ansehung der Kriegsführung, der Gesandtschaften, Verträge u. Zufluchtsstätten (Asyle) beobachtet wurden; jedoch beruhte dies antike V. nicht sowohl auf der Anerkennung einer Rechtsverbindliche gegen andere Völker, als vielmehr auf religiösen Vorstellungen u. der dadurch bestimmten Sitte. Man hielt Gesandte u. Flehende für unverletzbar, weil sie unter dem Schutz der Religion standen u. mit heiligen Symbolen auftraten; ebenso galten die Verträge mit fremden Nationen nur deshalb für verbindlich, weil sie durch Eide u. feierliche Opfer unter den Schutz u. die Rache der Götter gestellt wurden. An u. für sich betrachteten aber sowohl Griechen als Römer den Fremden für rechtlos; gegen Barbaren wurde von beiden Nationen der ewige Krieg als Grundsatz angesehen, u. auch die Philosophen der alten Welt erkannten einen rechtlichen Zusammenhang mit anderen Völkern nur auf dem Grunde besonderer Verträge an. Ein engeres Band u. ein dauerndes Rechtsverhältniß bestand wohl unter stammverwandten Völkern, wie z.B. im griechischen Amphiktyonenbund u. dem Bund der Latiner, jedoch auch hier hauptsächlich nur durch den Einfluß des gemeinsamen Göttercultus u. der damit zusammenhängenden besonderen Bundesanstalten. Noch roher war die Völkersitte im Mittelalter, nicht blos in den Berührungen zwischen Gläubigen u. Ungläubigen, sondern selbst zwischen christlichen Staaten; am rohesten zeigt sie sich in den nördlichen Seestaaten. Erst der weiteren Ausbreitung des Christenthums war es vorbehalten, die Völker auf einen anderen Weg hinzuleiten. Die universelle Natur desselben, sein Gebot auch dem Feinde wohl zu thun konnte nicht mit einer ewigen Feindschaft der Nationen zusammenbestehen. Besonderen Einfluß auf die Anerkennung gegenseitiger allgemeiner Rechte übte die Vereinigung der Abendländischen Kirche unter einem geistlichen Oberhaupt, vor welchem sich alle Fürsten beugten, u. die durchgängige Verbreitung des Römischen Rechtes als eines für alle christlichen Staaten, folglich auch für die christlichen Regenten unter einander gültigen Rechtes. Die Regeln des Römischen Privatrechtes, so weit sie die Kirche nicht mißbilligte, wurden nun auch auf die Völkerverhältnisse übertragen, u. selbst die durch die Reformation herbeigeführte Glaubensspaltung konnte das dadurch gemeinsame Band nicht wieder auflösen, da auch die reformatorischen Lehrer an dieser Grundlage festhielten. Die festere innere Abschließung der einzelnen Staaten gegen auswärtigen Einfluß gab dem V. sogar eine neue Basis u. Entwickelung in der Bildung des Souveränetätsbegriffes (s. Souveränetät) u. der damit in Verbindung stehenden Gleichheit aller Staaten. Zwar wurde dies Streben eine Zeit lang durch die von Italien aus (bes. durch Machiavelli) verbreitete Politik, welche den eigenen Vortheil jedes Staates jedem fremden Rechte voransetzte, wie nicht minder durch die bes. im 16. Jahrh. zur Geltung gelangende Idee des sogenannten politischen Gleichgewichtes, wornach jede Macht, entweder für sich allein od. durch Coalitionen, auf den Grund eines Rechtes der Selbsterhaltung, jede andere an der Erlangung einer Übergewalt zu hindern trachtete, nicht wenig wieder zurückgedrängt; allein schon im Anfange des 17. Jahrh. trat unter dem Einfluß wissenschaftlicher Pflege das Bewußtsein der Nothwendigkeit fester Rechtsprincipien auf diesem Gebiete von Neuem um so lebendiger u. zugleich geläuterter hervor. Bes. war es das im Jahr 1625 zuerst erschienene berühmte Werk des Hugo Grotius De jure belli ac pacis, welches in dieser Beziehung eine neue Bahn der Entwickelung eröffnete u. indem es an die Grundsätze des Christenthums, die Lehren der Geschichte, die Aussprüche der älteren Staatsweisen über Recht u. Unrecht anknüpfte, das V. zuerst zu einer selbständigen Wissenschaft erhob, ja welches mit der Zeit sogar sich unvermerkt[655] das Ansehen eines europäischen, von allen Confessionen gebilligten Völkercodex errang. Alle späteren Bearbeitungen des V-es haben mehr od. minder auf der Grundlage dieses Werkes fortgebaut, wenn sich dabei auch beiden Einen, welche von der Thatsache od. Fiction eines der menschlichen Natur eingepflanzten Vernunftgesetzes ausgingen, welchem sich kein menschliches Wesen u. folglich auch kein menschlicher Verein entziehen dürfe, die bezüglichen Rechtsgrundsätze mehr als eine naturrechtliche Wissenschaft ausbildeten, wie z.B. bei Pufendorf u. Thomasius, während Andere mehr den historisch-praktischen Standpunkt einnahmen, daher mehr dem Herkommen, der Praxis u. Geschichte sich zuwendeten u. das Recht wesentlich auf die in den positiven Verträgen gewonnene Ordnung stützten. Eine bedeutende Erschütterung erfuhren die Principien des V-es mit der ersten Französischen Revolution u. unter dem Napoleonischen Kaiserreich, bis es der allgemeinen Coalition gegen Frankreich gelang die Übermacht Frankreichs zu brechen. In den Verträgen von 1814 u. 1815 wurde das Bestehen eines allgemeinen V-es mehrfach ausdrücklich anerkannt. Bes. gaben beinahe sämmtliche christlichen Monarchen Europa's sich in der sogenannten Heiligen Allianz persönlich das Wort sich u. ihre Staaten als Glieder einer großen christlichen Familie betrachten zu wollen u. erkannten somit das wirkliche Bestehen einer sittlichen Staatengesellschaft an. Auf dem Aachener Congreß von 1818 sprachen die Bevollmächtigten der fünf europäischen Großmächte es als den festen Entschluß ihrer Regierungen aus, sich weder unter einander, noch auch gegen dritte Staaten von der strengsten Beobachtung des V-es für den Zweck eines dauernden Friedenszustandes entfernen zu wollen. Seit dieser Zeit u. auf Grund der damals getroffenen Vereinbarungen bilden jene fünf Großmächte (Österreich, England, Frankreich, Rußland, Preußen) zugleich gewissermaßen ein Völkertribunal, indem durch die gemeinsamen Berathungen dieser Mächte die wichtigsten politischen Angelegenheiten nicht nur dieser Mächte selbst, sondern auch dritter Staaten festgestellt worden sind. Mehre wichtige Entscheidungen des V-es wurden neuerdings durch den Pariser Frieden vom Jahr 1856 getroffen.

Über Literatur des V-es vgl. von Ompteda, Literatur des gesammten V-es, Regensb. 1785, 2 Thle.; von Neue Literatur des V-es seit dem Jahr 1784, Berl. 1817. Hand- u. Lehrbücher des V-es schrieben, außer H. Grotius, noch Sam, de Pufendorf, De jure naturae et gentium, Lond. 1672, in das Deutsche, Englische, Italienische u. Französische übersetzt u. neu aufgelegt Frankf. 1706, 1715, 1744 u. ö.; Glafey, V., Nürnb. 1752; J. J. Moser, Grundsätze des jetzt üblichen europäischen V-es in Friedenszeiten, Hanau 1750, desselben in Kriegszeiten, ebd. 1752; Derselbe, Erste Grundlehren des jetzigen europäischen V-es, Nürnb. 1778, u. Versuch des neuesten europäischen V-es, vornämlich aus Staatshandlungen seit 1740, Frankf. 1777–80, 12 Bde.; Chr. von Wolff, Grundsätze des Natur- u. V-es, Halle 1754; Burlamaqui, Principes du droit de la nature et de gens, Yverd 1766; Derselbe, Principes du droit naturel et politique, Genf 1764, 2 Bde.; Martens, Précis du droit des gens modernes de l'Europe fondé sur les traités et l'usage Götting. 1789, 2 Bde., u. Ausgabe von Pinheiro-Ferreira, Par. 1831; Derselbe, Einleitung in das positive europäische B., Götting. 1796; Th. Schmalz, Europäisches V., Berl. 1817; F. Saalfeld, Handbuch des positiven V-es, Tüb. 1833; Pölitz, Praktisches europäisches B., Lpz. 1824; H. Wheaton, Elements of international law, Lond. 1836; Pinheiro-Ferreira, Cours de droit publice interne et externe, Par. 1830; Klüber, Europäisches V., 2. Aufl., herausgeg. von Morstadt Schaffh. 1851; A. W. Heffter. Das europäische V. der Gegenwart, 3. Aufl. Berl. 1855; Oppenheim, System des V-es, Frankf. 1845. Sammlungen von Staatsverträgen u. Völkerbündnissen als Quellen des V-es: I. du Mont, Corps universel diplomatique du droit des gens etc. depuis Charlemagne jusqu'à present, Amsterd. 1726–31, 2 Bde., nebst 5 Supplementbänden; J. J. Schmauß, Corp. jur. gentium academicum, Lpz. 1730, 2 Bde.; G. F. de Martens, Recueil des principaux traités d'alliance, de paix etc., Götting. 1791–1801, 7 Bde., u. 8 Bde. Supplemente; Derselbe, Nouveau recueil, von 1808 an, u. fortgesetzt von C. de Martens, Saalfeld u. Murhard, 32 Bde.; C. de Martens u. F. de Cussy, Recueil manuel et pratique de traités, conventions et autres artes diplomatiques, Lpz. 1846, 4 Bde.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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