Glosse

Glosse

Glosse (v. gr.), 1) bei griechischen Schriftstellern ein provincielles, unbekanntes, dunkeles, der Erklärung bedürfendes Wort; dagegen in literaturhistorischem Sinne das so erklärende Wort; sie wurde gewöhnlich in den Handschriften auf dem Rande der Schrift beigeschrieben, daher Randglosse; eine Sammlung solcher Erklärungen in alphabetischer Ordnung heißt Glossarium, die Verfasser Glossographen od. Glossatoren. Solche G-n A) zu den neutestamentlichen Büchern aus Hesychios, Suidas u. Phavorinus sammelten als Glossae sacrae Alberti, Walckenaer u.a., u. J. Chr. Gottlob Ernesti gab eine Handausgabe derselben Leipz. 1785, 2 Thle., heraus; dazu gab Schleusner in vier Programmen 1809 f. Nachträge, u. Sturz gab ein Specimen derselben aus Zonaras, 1818, heraus. Ferner gibt es solche G-n B) zu den Justinianeischen Rechtsbüchern; es sind hier die sachdienlichen Erläuterungen u. Anmerkungen, welche die italienischen Rechtsgelehrten in Bologna u. Pisa (Glossatoren) im 12. u. 13. Jahrh. bei der Interpretation des Corpus juris ihren Schülern mittheilten. Diese G-n wurden hernach den Manuscripten der Justinianeischen Compilationen beigefügt, Anfangs in den Text selbst zwischen den Zeilen bei den Worten eingerückt, auf welche sie sich bezogen (Glossae interlineares), nachher aber am Rande, theils neben, theils unter dem Text (Glossae marginales). Als der erste Glossator wird gewöhnlich Irnerius (gest. 1140) genannt, obschon dieser Name erst unter seinen Schülern u. Nachfolgern im Lehramte gebräuchlich wurde. Nach ihm zeichneten sich bes. aus: Bulgarus (gest. 1166), dessen Nebenbuhler Martinus Gosia, Hugo u. Jacobus de Porta Ravennate (die vier Doctoren). Accursius (s.d.) sammelte die verschiedenen G-n seiner Vorgänger u. compilirte sie, mit Hinzufügung mancher eigenen Bemerkungen zu einer Glossa ordinaria (auch Glossa Accursiana genannt). Nur die glossirten Stellen des Corpus juris sind aufgenommen u. haben in Deutschland Gesetzeskraft nach dem Satze: Quod non agnoscit glossa, id nec agnoscit curia. Über die schon beiden Glossatoren sich vorfindenden Meinungsverschiedenheiten vgl. G. Hänel, Dissensiones dominorum, Lpz. 1838. Herausgegeben ist die G. mit vielen älteren Ausgaben des Corpus juris; über eine versuchte eigene Ausgabe derselben s. Claussen, Denuo edendae Accurs glossae specimen, Halle 1828. In gleicher Weise wurden auch andere Rechtssammlungen im Mittelalter mit G-n versehen. Für die Libri feudorum (s.d.) wurden solche G-n theils von Bulgarus, theils von Pillius, vorzüglich von Jacobus. Columbi (um 1240) verfaßt u. später von Accursius ebenfalls überarbeitet. Ebenso gibt es G-n für diejenigen Rechtsbücher, welche das Corpus juris canonici (s.d.) bilden. Die G. für das Decretum Gratiani rührt von Johannes Teutonicus (um 1212) her, wurde aber von Bartholomäus v. Brescia (gest. 1258) überarbeitet u. vermehrt. Für die Decretalen Gregors IX. stellte Bernardus de Bortono (Bernardus Parmensis, gest. 1268) eine Glossa ordinaria aus verschiedenen früheren G-n zusammen. Die G. für den sogen. Liber Sextus ist von Johannes Andreä verfaßt u. später von Franciscus Zabarella verbessert worden. Für den Sachsenspiegel (s.d.) hat man eine G. von dem märkischen Ritter v. Buch, mit späteren Vermehrungen von Theodor v. Bocksdorff. Glossenähnliche Arbeiten über die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. sind die lateinischen Übersetzungen u. Paraphrasen derselben von Justinus Gebler u. Georg Remus (herausgeg. von Abegg, Heidelb. 1837). Auch gibt es C) mehrere altdeutsche Glossensammlungen, benannttheils nach den Verfassern, theils nach dem Orte, wo die Handschriften aufbewahrt werden, in denen sie enthalten sind, theils nach ihren Herausgebern; bes. a) althochdeutsche, von denen die bedeutenderen sind. Glossae Hrabani Mauri, s.u. Hrabanus; G. Salomonis (Isonis), aus dem 9. Jahrh., in St. Gallen; G. Casselanae, aus dem 8. Jahrh., wahrscheinlich in Baiern aufgeschrieben; G. Monseenses, aus dem 9. Jahrh., im Kloster Mondsee; G. Vindobonenses, mehrere noch nicht herausgegeben; diese G-n sind meist in Schilters Thesaurus eingetragen, andere von Eccard u.a. herausgeben; G. Junianae, von Fr. Junius herausgegeben, Handschrift jetzt in England; G. Docenianae, von Docen aus münchener Handschriften herausgegeben; G. Tychsenii, aus dem 10. Jahrh, von Tychsen aus einer Handschrift des Escurial herausgeben; b) altniederdeutsche, unter ihnen die G. Lipsii, aus dem 9. Jahrh., aus einer Psalmenübersetzung gezogen u. zuerst von Lipsius in den Epistolae sel. cens. III., zum Theil von Hagen, Berl. 1816, herausgegeben. 2) Im gemeinen Leben so v.w. Anmerkung, bes. bittere, beißende Bemerkung über etwas (G-n über etwas machen). 3) (Poet.), aus der spanischen u. portugiesischen Poesie in die deutsche von den Gebrüdern Schlegel (die sie Variationen nennten) übertragene Art von zierlichen u. kunstreichen Gedichten, die mit einem Thema von 1 bis 4 u. mehr Versen beginnen, welche in eben so viel Strophen weiter ausgeführt werden. Die Schlußzeile von jeder Strophe bildet dann stets eine Verszeile des Themas, in derselben Ordnung wie sie dort folgen.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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