Rechtsschulen

Rechtsschulen

Rechtsschulen, 1) Lehranstalten, in welchen Unterricht in der Rechtswissenschaft ertheilt wird. Die Gewohnheit, den Rechtsunterricht in eigenen Schulen zu ertheilen, findet sich für das Römische Recht schon zu Cicero's Zeit; indessen bildete dieser Unterricht bei den klassischen römischen Juristen nur eine Nebenbeschäftigung, welche blos von Einzelnen u., wie es scheint, nur vorübergehend geübt wurde. Eigentliche R. mit angestellten u. besoldeten Lehrern (Antecessores) finden sich bei den Römern erst seit dem 3. Jahrh. n.Chr. Die älteste u. berühmteste R. bestand zu Berytos in Phönicien mit einer sehr geregelten Verfassung (Anfangs mit 2, später mit 4 Professoren besetzt), eine zweite seit dem 5. Jahrh. in Constantinopel, eine dritte, noch später entstandene in Rom. An der Schule zu Berytos lehrten u.a. Dorotheos u. Anatolios, an der zu Constantinopel Theophilos u. Kratinos, welche sämmtlich bei der Verabfassung der Justinianischen Rechtsbücher thätig waren. Die Grundlage des Rechtsunterrichtes bildete auf den beiden letztern Schulen bis zu Justinian die Vorlesung juristischer Schriften, welche man in das Griechische übersetzte u. hin u. wieder commentirte; der Unterricht selbst war auf 5 Jahre berechnet. Im ersten Jahre lagen den Vorträgen die Institutionen des Gajus (s.d.) u. vier von dessen Libri singulares über das Heirathsgut, Tutelen, Testamente u. Legate zu Grunde; die Schüler hießen Dupondii; im zweiten Jahre, wo sie den Namen Edictales erhielten, wurden die Schüler mit dem Edicte bekannt gemacht; im dritten bildeten bes. Papinians Responsen den Haupttheil des Unterrichts, woher auch der Name Papinianistae für die Schüler dieser Abtheilung gebräuchlich war; im vierten beschäftigten sich die Studirenden ohne Beihülfe eines Lehrers mit den Responsen des Paullus, daher Λύται, Lytae, d. i. Soluti genannt; im fünften endlich wurden die kaiserlichen Constitutionen gelesen, u. die Schüler hießen Prolytae. Diese ganze Ordnung des Rechtsstudiums wurde aber durch Justinian mit Beziehung auf die von ihm publicirten Gesetzbücher wesentlich umgestaltet. Nach dem von ihm vorgeschriebenen Plane sollte im ersten Jahre über seine Institutionen u. die Prima pars legum, d. i. den ersten Theil der Pandecten, gelesen werden; die Schüler empfingen den Namen Justinianei novi od. Justinianistae; für das zweite Jahr sollten die Schüler ihren früheren Namen Edictales beibehalten u. entweder die zweite od. dritte Pars legum (der Digesten) ihnen vorgetragen werden; im dritten Jahr, wo die Schüler[895] gleichfalls den früheren Namen Papinianistae beibehielten, sollte die im vorigen Jahre ausgelassene zweite od. dritte Pars der Digesten nebst den drei ersten Büchern der vierten Pars an die Reihe kommen; im vierten Jahre sollten die Schüler als Lytae die bisher noch nicht vorgetragenen Bücher aus der vierten u. fünften Pars, im fünften endlich als Prolytae den noch übrigen Theil der sechsten u. siebenten Pars für sich durchgehen. Wie lange diese byzantinischen R-n fortdauerten, läßt sich nicht genau ermitteln. Im 11. Jahrh. findet sich eine neue R. zu Ravenna, welche, nachdem unter den Stürmen der Völkerwanderung das Studium des Rechts fast gänzlich aufgehört hatte, dasselbe von Neuem wieder aufnahm. Ihr folgte die viel berühmter gewordene Schule zu Bologna, deren Bestehen sich bis auf den Anfang des 12. Jahrh. zurück nachweisen läßt. Durch die an dieser Schule lehrenden Glossatoren (s.d.) wurde nicht blos das Studium des Römischen Rechts von Neuem belebt, sondern auch die Geltung desselben über die ganze gebildete europäische Staatenwelt verbreitet, indem Jünger der Rechtswissenschaft aus allen Ländern dahin zusammenströmten, um an dem Unterrichte Theil zu nehmen, u. das gelehrte Recht alsbald auch in ihrer Heimath zur Anwendung zu bringen trachteten. Nach dem Muster der Bologneser R. wurden darauf auch in andern Ländern, namentlich in Paris, seit 1348 auch in Deutschland Universitäten gegründet, an denen frühzeitig Lehrer des Römischen u. Canonischen Rechtes erscheinen. Den ersten Vortrag über Römisches Recht kündigte, so viel bekannt, in Deutschland Ubertus de Campaniano an der Universität zu Prag im Jahre 1380 an. Aus dem Zusammenschließen dieser Lehrer bildeten sich an den deutschen Universitäten die juristischen Facultäten, welche gegenwärtig als R. in Deutschland bestehen. Die Organisation derselben u. der Unterricht an ihnen ist in derselben Weise eingerichtet, wie bei den andern Universitätsfacultäten. 2) Im uneigentlichen Sinne eine Anzahl Rechtsgelehrter, welche bei der Behandlungsweise der Rechtswissenschaften von gleichen Grundansichten ausgehen u. dieselben als Partei zur Geltung zu bringen suchen. Ein Beispiel des Bestehens solcher R. bietet schon die Zeit der klassischen Juristen in Rom in dem Unterschied der Proculejaner u. Sabinianer (auch Cassianer genannt), von denen die erstern auf die Juristen Antistius Labeo (unter August) u. Proculus, die andern auf C. Atejus Capito (unter August) u. Massurius Sabinus zurückgeführt werden. Ihr Unterschied zeigt sich im Allgemeinen darin, daß den Labeo die freiere Geistesrichtung u. die umfassende, über die Grenzen der Jurisprudenz hinausreichende Kenntniß auf viele neue Ansichten führte, während Capito mehr an den hergebrachten Lehren fest zu halten geneigt war. Der Gegensatz beider Schulen dauerte bis unter die Regierung Hadrians fort, zu welcher Zeit noch Gajus (s.d.) entschieden als Sabinianer auftritt. Die Annahme, daß neben beiden Schulen noch eine dritte unter dem Namen Miscelliones (s.d.) bestanden habe, ist aus Mißverständniß einer Stelle bei Festus entstanden. Ähnliche Schulen entstanden auch wieder zur Zeit der Glossatoren in der Unterscheidung der eigentlichen Glossatoren von den Bartolisten u. Baldisten (den Anhängern des Bartolus de Saxoferrato u. Baldus de Ubaldis). welche letztere sich im Gegensatz der einfachen u. würdigen Behandlungsweise der Glossatoren in eine Menge unnützer Spitzfindigkeiten u. eine breite Casuistik verloren, sowie im 16. Jahrh. in der Unterscheidung zwischen Nominalisten u. Realisten, von denen die erstern eine neue Behandlung der Rechtswissenschaft durch eine historisch-kritische Behandlung der Rechtsquellen, Aussuchung u. Benutzung bisher unbekannter Fragmente der Rechtsliteratur etc., überhaupt durch eine Verbindung der Philologie mit der Jurisprudenz anstrebten, die andern dagegen durch ihren Sachreichthum zu glänzen suchten. In neuester Zeit sprach man von einer sogen. historischen u. nicht historischen R., zu welcher Unterscheidung bes. der unter den Koryphäen der neueren Jurisprudenz, Thibaut u. Gönner einerseits u. v. Savigny andererseits, im Jahre 1814 begonnene u. längere Zeit hindurch fortgesponnene Streit über die Möglichkeit u. Zweckmäßigkeit einer Codification des Bürgerlichen Rechtes für Deutschland den Anlaß bot. Indem dabei von v. Savigny die historischnationale Grundlage der Rechtsbildung u. damit neben dem Gesetz auch die Bedeutung des Gewohnheitsrechts schärfer hervorgehoben wurde, bildete sich zwischen den Schülern dieses Rechtslehrers u. den Anhängern Thibauts u. Gönners, welche von dem baldigen Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Gesetzbuchs eine neue Entwickelung der Rechtswissenschaft erwarteten, ein gewisser Gegensatz aus, welcher aber nicht in der Weise aufzufassen ist, daß v. Savigny nur in dem historischen Wissen, Thibaut nur in der philosophischen Erkenntniß des Rechtes die Aufgabe der Rechtswissenschaft erblickt habe, da vielmehr sowohl Erster durch sein System des Römischen Rechts den Werth systematischer Behandlung, als auch Letzter durch verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen den Werth historischer Entwickelung des Rechtes anerkannt hat. Richtiger kann man für die Gegenwart eine romanisirende u. eine deutsche R. unterscheiden, je nach der größern od. geringern Bedeutung, welche dem Römischen Rechte im Verhältnisse zu den deutschen Rechtsinstituten beigelegt wird. Vgl. Bluntschli, Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen, Zürich 1841.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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